Die nachfolgende Kurzgeschichte entstand beim Hören des spanischen ESC-Beitrags
"Dancing in the Rain" von Ruth Lorenzo.
Jemand wie Sie sollte eigentlich gar
nicht mit Kindern arbeiten dürfen. Von einem Grundschullehrer erwarte ich
zumindest einen anständigen Lebenswandel, junger Mann.
Nick spürte
noch die Schamesröte in seinem Gesicht. Was für ein schrecklicher Tag. Seine
Schüler hatten das spontane Outing im Sachkundeunterricht eigentlich ganz gut
aufgenommen. Die Eltern dagegen weniger…
Was war
schon dabei? Früher oder später hätte jemand den Kindern beibringen müssen, dass schwule Menschen
nicht Gegenstand geschmackloser Witze werden dürfen. Die Vorbildfunktion eines
Grundschullehrers war für diesen Lernprozess doch bestens geeignet. Immerhin
wurde Nick von den Kindern respektiert – auch nach seinem Outing.
Dass es noch
konservative Eltern gab, die das anders sahen, war nicht seine Schuld.
Schwermütig erinnerte sich Nick an jedes unangenehme Detail seines Gesprächs
mit dem Schuldirektor, der glücklicherweise seine Ansicht teilte und nichts
Schlimmes an der Sache fand. Nach einem tiefen Luftzug schüttelte Nick den Kopf
und versuchte seine Gedanken frei zu bekommen. Im Moment hatte er eigentlich
andere Sorgen. Er fasste sich vorsichtig an den Knöchel und zuckte zusammen,
als er immer noch denselben stechenden Schmerz spürte, der ihn nach seinem
vermeintlich harmlosen Sturz zu einer kurzen Rast gezwungen hatte. Der warme
Frühlingswind streichelte seine Haare, während er sich an einer Buche anlehnte
und vorsichtig seinen Fuß belastete. Diese verdammte Baumwurzel. Wie immer zur
falschen Zeit am falschen Ort…
Wenigstens
konnte Nick das Rauschen eines Bergbachs hören, der sich nicht weit entfernt
befand und Aussicht auf eine angenehme Kühlung für den geschwollenen Knöchel
bot. Mehr hüpfend als gehend bewegte er sich langsam auf das Gewässer zu. Der
Bergbach war bei näherem Hinsehen ein reißender Fluss, der sich durch das
Gestein zog und im Laufe der Jahrhunderte eine tiefe Schneise geschnitten
hatte, die nun von nacktem Fels umsäumt war. Zum Wasser zu gelangen versprach
eine Herausforderung zu werden. Vorsichtig kniete Nick nieder, um auf Händen
und Füßen den felsigen Abhang zum kühlenden Wasser zu überwinden. Ein
plötzliches Rascheln gefolgt von schnellen Schritten in seiner Nähe ließ ihn
erstarren, doch Nick konnte nicht schnell genug reagieren, ehe er von den Füßen
gerissen wurde und mit einem zügig sprintenden Fremden zusammenstieß, mit dem
er unsanft im Kiesbett des Baches landete.
„Hey! Pass
doch auf, hier ist schließlich ein Abgrund. Du wärst direkt ins Wasser
gelaufen!“ Nick rappelte sich umständlich auf und zischte laut, als sich der
schmerzende Knöchel erneut meldete.
„Sorry, hab
dich nicht gesehen.“ Der Sprinter war mit einem Satz wieder auf den Beinen und
richtete seinen Rucksack, der ihm über die Schulter gerutscht war. Sein
ärmelloses Shirt klebte an seinem verschwitzten Körper. Nicks Augen blieben an
einem makellosen Ärmeltattoo hängen, das seinen linken Arm hochwanderte und an
der Brust unter dem Shirt verschwand. Der Junge hatte sich die Stirn an einem
Stein aufgeschlagen und blutete leicht, aber er schien es nicht zu bemerken.
„Was ist mit
deinem Fuß?“, fragte er ernst. Nick musterte die symmetrischen Brauen des Mannes, die sich über den hellblauen Augen zusammenzogen und
interessante Falten auf seiner Stirn hinterließen.
„Tut mir
leid, dass ich dich umgerannt habe. Hast du dir weh getan?“ Er ergriff Nicks
Arm und stützte ihn, damit er auf den rutschigen Kieseln nicht den Halt verlor.
Nick
winkte ab und zog ein Taschentuch aus seiner Cargo-Hose. „Das mit dem Fuß warst
nicht du. Ich bin vorhin gestolpert und hab mir den Knöchel verstaucht.“ Er
reichte ihm das Taschentuch, aber der Junge starrte ihn fragend an.
„Deine
Stirn. Sie blutet.“ Nick hob seine Hand, um das Tuch an die Wunde zu drücken,
aber zu seiner Verwunderung zuckte der Läufer zurück und tippte sich an die
Stirn. Er wandte sich ab und starrte gedankenverloren auf seine blutigen
Fingerkuppen.
„Alles okay?
Es sieht nicht besonders schlimm aus.“ Nick wandte seine Aufmerksamkeit wieder
seinem Knöchel zu, der ihm mittlerweile jede Bewegung zur Hölle machte. Der
Läufer sank auf die Knie und wusch sich den Kopf im kalten Wasser. Nick setzte
sich zu ihm, zog vorsichtig seinen Schuh aus und hielt den geschwollenen Fuß in
das kühle Wasser. Sein erleichtertes Seufzen zauberte ein amüsiertes Lächeln in
das Gesicht des Mannes.
„Marco“,
sagte er und reichte Nick die Hand.
„Nick.
Läufst du immer so stürmisch durch die Gegend hier?“ Er rieb vorsichtig seinen
Fuß, der endlich aufgehört hatte zu schmerzen.
„Ich bin
Crossläufer. Die Strecke hier kenne ich praktisch auswendig. Ich wollte hier
durch den Fluss als ich in dich gerannt bin.“ Er nahm wieder eine Handvoll
Wasser und benetzte sein Gesicht.
„Beeindruckend.
Du durchschwimmst den Fluss trotz der starken Strömung? Ist das nicht
gefährlich?“
„Doch.“
Marco lächelte wieder verschmitzt. Seine strahlenden Augen kosteten Nick ein
paar Herzschläge, eher er seine Worte wiederfand.
„Ein
ungewöhnliches Hobby“, stellte er fest. Marco erhob sich wieder.
„Nicht nur.
Ich bin Fitnesstrainer und organisiere manchmal Läufe mit Kunden, wenn ihnen
das Gym zu eintönig wird.“ Nicks Blick fiel auf Marcos gestählte Muskeln und er
nickte anerkennend.
„Das erklärt
so einiges“, lachte er und freute sich über den Klaps auf seine Schulter, den
Marco ihm mit gespielter Empörung gab.
„Kannst du
überhaupt gehen?“, fragte er schließlich ernst. Nick stellte sich vorsichtig
auf beide Beine und zuckte zusammen, als der bekannte Schmerz zurückkehrte.
Marco runzelte wieder die Stirn und reichte ihm die Hand.
„Wo musst du hin? Ich gehe mit dir. Ich nehme an deine Wandertour ist ohnehin zu Ende, oder?“
Wow. Was für
ein Typ. Nick nahm die angebotene Hand und versank regelrecht in Marcos starken
Armen, als er ihn bei der Schulter nahm und ihm aus dem Flussbett half. Der Weg
durch den Wald zurück zum Parkplatz war länger als Nick angenommen hatte. Er
konnte den verletzten Fuß kaum benutzen und hing schwer an Marcos Seite, der
sein Gewicht ohne große Anstrengung trug. Das Spiel der kräftigen Muskeln unter
der gebräunten Haut faszinierte Nick und fast wäre er mit Marco wieder auf dem
Boden gelandet, doch der Athlet bemerkte den Stein noch bevor Nick darüber
stolpern konnte.
„Was machst
du eigentlich, wenn du nicht verletzt durch den Wald stolperst?“, fragte Marco lachend,
um das betretene Schweigen zu überbrücken, das zwischen ihnen entstanden
war. Nick verdrehte die Augen.
„Ich bin
Grundschullehrer an einer Privatschule.“ Er suchte Marcos Augen um seine
Reaktion zu sehen. Was mochte ein trainierter Fitnessstudio-Schönling von einem
biederen Lehrer wie Nick halten?
Marcos Augen
leuchteten jedoch überrascht auf. „Etwa an der St. George’s? Dort gebe ich
Basketballunterricht für die Oberstufe als außerschulische Aktivität.“ Nick
schmunzelte. Er hatte die Szene bildlich
vor Augen und konnte sich die Reaktion pubertierender Schüler auf einen
hübschen Basketballtrainer wie Marco lebhaft vorstellen. Er schüttelte den
Kopf.
„Nein, an
der Munich International School.“ Marco war ein Mann voller Überraschungen,
dachte Nick amüsiert. Nick verlor in einem unachtsamen Moment wieder den Boden
unter den Füßen und riss Marco diesmal mit sich. Bei dem Versuch, wenigstens
den verletzten Knöchel zu schützen, hielt er den Fuß hoch und bemerkte zu spät,
dass er direkt in Marcos Schoß gelandet war. Marco lachte laut auf und griff
mit starken Armen nach Nicks Taille, um ihm hoch zu helfen. Die beiden starrten
einander eine gefühlte Ewigkeit an, ehe Nick verlegen lachte. Marco zwinkerte
ihn an und ließ seine Hände eine Sekunde zu lange auf Nicks Bauch verharren,
ehe er sich aufrappelte.
„Ich bin ein
furchtbarer Flirt, sorry.“ Marco klopfte
die Tannennadeln von seiner Jogginghose und zog Nicks Arm wieder über seine
Schulter, um den Weg fortzusetzen. Nick
sah ihn mit leuchtenden Augen an.
„Das finde
ich gar nicht.“ Marco war ein irrsinnig netter Kerl und obendrein vom selben
Ufer, wie es schien. „Ich bin dir sehr dankbar, dass du mir hilfst.“ Nick
wechselte lieber das Thema. Wenn jemand ein schlechter Flirt war, dann ohne
Zweifel Nick. Sein Liebesleben war mit Ausnahme einiger weniger Schritte in
aufregendes Neuland während der Pubertät eher als „kaum vorhanden“ zu
beschreiben. Aber einen Mann wie ihn hätte er sich ohnehin niemals getraut
anzusprechen. Marcos schiefes Lächeln verriet, dass er den Themenwechsel
durchaus bemerkt hatte.
„Am besten fahre
ich dich mit deinem Wagen ins Krankenhaus. Du solltest den Fuß checken lassen.“
Der
Parkplatz am Waldrand bot schließlich ein recht einsames Bild. Nicks alter
orangefarbener Ford stand alleine neben der Straße und strahlte das Flair der
1980er-Jahre aus, das Nick nicht wirklich mochte. Trotzdem hatte er sich nie
einen neueren Wagen beschafft. Für die Fahrt zur Arbeit reichte er allemal aus.
Marco schwang sich ans Steuer und fuhr den Wagen in einer engen Schleife auf
die Straße hinaus. Sein Sportrucksack war auf dem Rücksitz gelandet und Nick
betrachtete fasziniert Marcos Arme, die am Lenkrad ruhten.
„Gefallen
Sie dir?“ Marco musste Nick nicht erst ansehen, um seine Augen auf sich zu spüren.
Peinlich berührt, wandte er sich ab.
„Die Tattoos
sind ein Wahnsinn. Wie lange hast du sie schon?“
„Zwei Jahre.
Der Tattooladen neben meinem Studio ist ziemlich gut. Sie haben damals
angeboten, mir welche zu stechen, wenn sie sie danach fotografieren und in der
Auslage verwenden dürfen. Hat mich gar nichts gekostet.“ Marco suchte
Rückspiegel und Armatur nach einer Sonnenbrille ab. Nick kam ihm zuvor und drückte
ihm seine Brille aus dem Handschuhfach in die Hand.
„Dann bist
du sogar Tattoomodel?“ Der Kerl wurde immer schräger, aber Nick stellte fest,
dass ihm der Gedanke gefiel.
„Ich war es, nur einmal. Mehr lasse ich nicht mehr machen. Ich find es immer schade, wenn Leute nicht wissen wann sie aufhören sollen und sich den ganzen Körper verunstalten.“ Er lächelte Nick zu.
„Und was
hast du so für Geheimnisse? Bist du durch und durch ein braver Lehrer?“ Wieder
dieses Zwinkern, das Nick warme Schauer über seinen Rücken laufen ließ.
„Mehr oder
weniger, ja. Aber wenn du nach meinem ungewöhnlichsten Hobby fragst, ich mache
gerne Höhlenwanderungen.“ Das schien Marcos Interesse zu wecken.
„Klingt ja
mächtig interessant. Hast du da ein paar Favoriten, die du empfehlen würdest.“
Nick konnte sich gut vorstellen, dass ein Sportler wie Marco die langgezogenen
Naturhöhlen bevorzugen würde, deren Begehung mehrere Tage dauerte. Zu Nicks
Favoriten zählten diese jedoch nicht.
„Um ehrlich
zu sein, am interessantesten fand ich immer die Erdställe. Die sind zwar nicht
so groß und ausgedehnt, wie viele natürliche Höhlen, aber sie sind
geheimnisvoll und fast in Vergessenheit geraten.“ Nick schmunzelte über Marcos
fragenden Blick. Natürlich hatte er noch nie davon gehört.
„Erdställe
sind von Menschen geschaffene Höhlen. Sie wurden im Mittelalter gebaut und
dienten wahrscheinlich als Kammern für die Seelen der Verstorbenen, ehe sie ins
Jenseits wanderten. Das war noch bevor das Christentum das Fegefeuer erfand.
Genaues weiß man allerdings nicht, deshalb sind sie ja so geheimnisvoll.“ Nick
freute sich über Marcos gespannte Aufmerksamkeit. Im Gegensatz zu seinen
Schülern interessierte sich Marco tatsächlich für seinen „Unterricht“.
„Wow. Und so etwas gibt es hier bei uns?“
„Hunderte
davon. Gerade hier in Bayern.“ Nick wollte Marco am liebsten einladen, einmal
gemeinsam eine dieser Höhlen zu besuchen, aber es lag ihm fern sich aufzudrängen.
Immerhin kannte er Marco erst seit einer knappen Stunde. Der Mann sah kurz zu
Nick und lächelte ihn verlegen an. Er war nicht sicher, aber er glaubte, dass
Marco denselben Gedanken hatte und ebenfalls beschloss, lieber den Mund zu
halten.
Die Fahrt
zur Unfallambulanz dauerte nicht lange und schneller als ihm lieb war, fand Nick
sich auf einem sterilen Krankenhausbett wieder und wartete, dass ein Arzt die
Röntgenaufnahme auswertete und mit ihm darüber sprach. Marco hatte sich in der
Zwischenzeit einen Kaffee geholt und saß, in eine von Nicks Jacken gehüllt, die
er im Auto liegen hatte, auf einem Stuhl neben seinem Bett. Nicks Herz schlug
förmlich höher. Sein Retter war nicht nur freundlich genug, auf ihn zu warten
und ihn anschließend nach Hause zu bringen, er setzte sich auch wie
selbstverständlich neben ihn, als sei er ein besorgter Familienangehöriger.
Nick musste sich eingestehen, dass er sich Hals über Kopf verliebte.
„Danke nochmal.“
„Keine
Ursache. Weißt du, ich war ein unglaublich schlechter Schüler. Ich freue mich
wenn ich mich wenigstens jetzt einmal bei einem Lehrer einschleimen kann.“ Er tätschelte Nicks Arm zärtlich, zog aber
seine Hand rasch wieder zurück und blickte verlegen zur Tür.
Der Arzt,
der bald darauf auftauchte, hatte gute Nachrichten. Kein Bruch, kein Haarriss,
sondern lediglich eine simple Verstauchung war der Grund für die Schwellung.
Ein paar Tage Erholung und der Fuß würde wieder wie neu sein. Nick machte sich
mit melancholischer Stimmung auf den Heimweg. Marco würde ihn bei seiner
Wohnung absetzen und anschließend mit der U-Bahn nach Hause fahren. Er war
nicht sicher, ob er ihn überhaupt wiedersehen würde. Marco sah in seiner
braunen Jacke und der dunklen Sonnenbrille am Steuer aus wie ein Pilot. Seine
gerade Nase und der leichte Bartschatten erinnerten Nick an eine
Armbanduhren-Werbung, die er früher so gern betrachtet hatte, weil ihm das
Fotomodell in Fliegerjacke gefiel.
„Hier sind
wir. Du kannst gleich hier parken.“ Nick deutete an den Randstein neben seiner
Wohnhausanlage. Der Weg in den dritten Stock war dank Aufzug rasch überwunden
und bald stand Nick Marco an seiner Türschwelle gegenüber. Das unvermeidliche Lebewohl
hing schwer zwischen den beiden.
„Ich danke
dir. Ich hoffe du gibst mir die Gelegenheit, mich einmal zu revanchieren?“ Nick
suchte Marcos Augen, die seinem Blick auszuweichen schienen. Schließlich hob er
den Kopf und Marco atmete traurig aus.
„Nick, du
bist ein sehr lieber Kerl. Ich wünsche dir alles Glück der Welt, aber mit uns
zwei, das wäre keine gute Idee.“
Der Schlag
saß. Nick blickte nun ebenfalls traurig zu Boden. Wie konnte er auch erwarten,
dass ein Mann wie Marco sich ernsthaft für einen Langweiler wie Nick
interessieren würde. Besser gleich den Schlussstrich ziehen, als später noch
größere Schmerzen zu erdulden.
„Ich
verstehe.“ Nick versuchte sich weg zu drehen, damit Marco die Träne nicht sah,
die sich auf seinen Wimpern formte, doch plötzlich ergriff Marco Nicks Arm und
zog ihn zu sich. Die beiden versanken in einer innigen Umarmung und schwiegen.
Nicks Träne rollte über seine Wange und benetze Marcos Ohr, der sein Gesicht an
seiner Schulter vergraben hatte. Schließlich lösten sie sich voneinander und
Marco drehte sich ohne ein weiteres Wort um und ging. Nick stand wie
angewurzelt auf der Türschwelle und wartete, doch er kam nicht wieder.
Was für ein
Tag.
***
Mit
versteinertem Gesicht lief Marco die Straße entlang. Tränen rannen über seine
Wangen, die er immer wieder mit der Handfläche abwischte, doch sie versiegten
nicht. Nicks liebevoller Blick verfolgte ihn in seinen Gedanken und traf ihn
wie ein Dolch mitten ins Herz. Er musste den stillen jungen Lehrer irgendwie
loswerden. Die wuscheligen braunen Haare, die Lippen, die sein Gesicht bei
jedem Lächeln in sanfte Falten legten. Der schlanke Körper in seinen Armen, als
sie zusammen am Boden lagen. Marco schüttelte den Kopf. Es war einfach nicht
möglich. Nick hatte sein ganzes Leben vor sich und brauchte jemanden auf den er
sich verlassen konnte. Marco hatte nichts zu bieten. Ein paar Muskeln,
vielleicht. Ein schönes Tattoo, wenn einem so etwas gefiel. Nur Äußerlichkeiten,
ohne Tiefgang. Er wollte niemanden gefährden. Und am allerwenigsten Nick.
Bevor es ihm
bewusst wurde, dass er von seinem Weg zur U-Bahn schon lange abgekommen war,
fand er sich vor dem Eingang des M54 wieder. Er atmete tief durch. Nicks Geruch
hing in seiner Nase und erinnerte ihn bei jedem Schritt an den jungen Mann, den
er heute verletzt und enttäuscht zurückgelassen hatte. Gab es einen besseren
Weg, auf andere Gedanken zu kommen als das hier?
Ohne weiter
nachzudenken ging er hinein.
Wie üblich,
war es eine surreale Szene. Marco drängte sich durch den dichten Nebel des
Dampfbades und ignorierte die Hände, die über seine Brust, seinen Hintern und
auch tiefer streichelten. Er suchte nach Leuten, die er kannte. Nicht
namentlich natürlich, aber dafür umso intimer. Er war gewohnt, stets im
Mittelpunkt zu stehen, wenn er solche Orte besuchte. Es machte vieles für ihn
leichter, auch wenn es ihm nicht immer gefiel. Endlich tauchte ein bekanntes
Gesicht im Halbdunkel auf. Marco nickte ihm fragend zu und der Mann lächelte
ihn an. Er war nur wenige Jahre älter als Marco, vielleicht knapp über Dreißig.
Sein Körper war schlank und drahtig, nicht muskulös und trainiert wie sein
eigener. Gerade daran hatte er so oft Gefallen gefunden. Der Mann ging langsam
auf die Knie und ließ dabei seine Zunge über Marcos Brust streichen, ehe seine
Lippen ihr Ziel fanden. Doch Marco war heute nicht nach Spielen zumute. Er
packte den Mann an der Schulter und drehte ihn zur Wand, ehe er ohne weitere
Umschweife in ihn eindrang. Das Stöhnen der beiden Männer ging in den
ekstatischen Geräuschen des Dampfbades unter. Die Hände, die über Marcos Körper
streichelten, während er in seinen Gespielen eindrang, wurden zahlreicher und
fordernder, als er schwer atmend seinem Höhepunkt näher kam. Mit einem
unterdrückten Aufschrei kam er schließlich und verweilte noch ein paar Atemzüge
lang in seinem Partner. Dann wandte er sich um, schlug die Hände weg und
verließ das Dampfbad ohne sich umzublicken.
Unter der
Dusche ließ Marco seinen Gefühlen schließlich freien Lauf. Er spürte die
Tränen, die sich formten und unter dem Wasser sofort weggespült wurden. Egal
wie oft er sich einseifte, er würde sich niemals wirklich sauber fühlen. Die
Männer unter den anderen Duschen blickten ihn irritiert an. Er ertappte sich
dabei, wie er leise schluchzend seine Hände über das Gesicht gelegt hatte und
am ganzen Körper zitterte. Bestimmt dachten sie er habe irgendetwas
eingenommen. Sollten sie doch. Marco drehte das Wasser ab, trocknete sich und
ging zur Umkleidekabine, wo er erneut an den Mann erinnert wurde, den er so
verzweifelt versuchte zu vergessen.
Die Jacke!
Er hatte Nick seine Jacke nicht zurückgegeben. Scheiße! Soviel zum Thema
Abstand nehmen. Jetzt musste er Nick wiedersehen. Vielleicht konnte er sie ihm ja
an die Tür hängen, während Nick in der Arbeit war. Er würde schon einen Weg
finden. Hastig warf er sich in seine verschwitzten Joggingklamotten und zog die
Jacke über. Er senkte seine Augen und ignorierte die gewohnten Blicke, als er
durch die Lobby ging. Draußen atmete er die kühle Abendluft tief ein und machte
sich auf den Weg zur U-Bahn. Wieder spürte er etwas Nasses in seinem Gesicht
und fasste sich erschrocken an die Wange. Doch es waren nur Tränen, die sich immer
noch ihren Weg suchten.
Was für ein
Tag.
***
„Silke liest
gerne, aber Jonas liest noch viel gerner.“ Nick schlug im Geiste die Hände über
dem Kopf zusammen.
„LIEBER, es
heißt ‚lieber‘, Pavel. Du kannst ‚gerne‘ nicht steigern.“ Der Junge machte Nick
wirklich das Leben schwer. Als Sohn eines russischen Diplomaten sprach er
zuhause nie Deutsch und zeigte daher besonders im Deutschunterricht große
Schwächen. Sich Deutsch anzueignen war definitiv schwieriger als Englisch. Nick
ließ die Stunde mit einer Schreibübung ausklingen und war überrascht, als nicht
alle Schüler beim Pausenläuten sofort aus der Klasse stürmten. Anna und ihr
bester Freund – und Streichkumpane –
Marlon blieben sitzen und starrten Nick an.
„Was ist
los? Keine Lust auf Pause?“ Er sortierte die Hefte auf seinem Tisch nach Namen
und sah hoch, als Anna nicht antwortete. Dem Mädchen schien etwas auf den
Lippen zu brennen.
„Ich habe
mitbekommen, dass meine Mutter sich über sie beschwert hat“, platzte es
schließlich aus ihr heraus, „Und ich wollte nur, dass Sie wissen, dass ich ihr
gesagt habe, dass Sie ganz okay sind.“
„Außerdem
finden wir Lady Gaga auch toll“, warf Marlon ein. Nick konnte sich ein
herzhaftes Lachen nicht verkneifen.
„Wie kommt
ihr darauf, dass mir Lady Gaga gefällt?“
Anna und
Marlon sahen ihn entgeistert an. „Mein Papa sagt, alle Schwulen lieben Lady
Gaga“, stellte das Mädchen schließlich fest.
„Und warum
auch nicht. Sie ist doch super!“, fügte Marlon hinzu.
„Das ist
zwar sehr schmeichelhaft von euch, aber es hilft euch nicht, wenn ihr euch bei
mir einschmeichelt. Die schriftliche Prüfung am Freitag zählt. Und besonders du
solltest dir das zu Herzen nehmen, Anna.“ Das Mädchen zählte nicht gerade zu
den motiviertesten Schülern.
Enttäuscht
nahmen die beiden ihre Taschen und verließen schmollend den Raum. Im selben
Moment steckte Nicks Kollegin Jessica ihren Kopf durch die Tür.
„Nick, an
der Rezeption möchte jemand was für dich abgegeben.“ Er hob überrascht den
Kopf.
„Hey Jess,
danke. Wer denn?“
„Keine
Ahnung. Fescher Typ, sah aus wie ein Sportlehrer.“ Nick ließ die Hefte
erschrocken fallen.
„Ist er noch
da?“ Jessica lächelte ihn schelmisch an. War er so leicht durchschaubar?
„Ja, er hat
mich gebeten, dich zu fragen, ob du kurz Zeit für ihn hast. Und ich sage dir,
wenn du keine Zeit hast, werde ich
sie mir nehmen. Der Typ ist heiß!“
Das letzte Wort formte sie tonlos mit ihren Lippen.
Nick rannte
die zwei Stockwerke hinunter. Louis, der Rezeptionist, deutete auf einen Mann,
der außerhalb der verglasten Eingangstür stand und wartete. Marco!
Er wollte
sofort zu ihm zu laufen, doch er besann sich und ging bedächtig nach draußen.
„Hey, Marco.
Ich freue mich dich wiederzusehen!“ Nick erschrak, als er Marcos rote Augen
sah. Hatte er etwa geweint? Marco blinzelte kurz und brachte seine Zähne mit
einem strahlenden Lächeln zum Vorschein.
„
Hallo Nick.
Entschuldige, dass ich dich störe, aber ich hab letztens deine Jacke mitgehen
lassen.“ Er überreichte ihm das gefaltete Kleidungsstück wie ein Geschenk.
„Danke. Ich
habe übrigens viel über das nachgedacht was du gesagt hast.“ Nick verfiel in
ein Flüstern. „Wenn ich nicht dein Typ bin, dann versteh ich das, aber falls es
nicht das ist, dann möchte ich, dass du weißt, dass ich dich sehr gern mag.“ Er
hoffte, dass Marco ihn nicht auslachte und ihn für völlig kindisch hielt. Doch
Marco starrte ihn nur traurig an. Seine geröteten Augen glänzten.
„Glaub mir,
ich mag dich auch sehr gern, aber ich bin nicht so gut geeignet für so etwas.“
Marco flüsterte nun ebenfalls. Nick starrte ihn unsicher an. Er hatte keine
Ahnung was er damit sagen wollte.
„Geeignet
wofür? Bist du schon vergeben?“ fragte er vorsichtig. Marco lachte und blickte
nach oben. Ganz offensichtlich war ihm diese Situation mehr als unangenehm.
Nick amüsierte sich darüber insgeheim. Mit jeder Unsicherheit, die Marco
zeigte, wuchs er ihm mehr ans Herz. Endlich fand er seine Worte wieder und
schüttelte mit gesenktem Blick den Kopf.
„Nein, bin ich
nicht. Nick, du möchtest doch nichts Oberflächliches. Ich sehe dir an, dass du
ein Romantiker bist und dir in deiner Fantasie Dinge ausmalst, bei denen ich
leider nicht mithalten kann. Für mich gibt es nur die Realität – und die ist
eher grau und ernüchternd.“ Nick vergaß die Welt um sich herum und zog
Marco in eine enge Umarmung.
„Es tut mir
leid, dass du so denkst. Aber gibst du mir trotzdem die Möglichkeit, dich
besser kennenzulernen?“, flüsterte er in sein Ohr. Marcos Augen suchten seinen
Blick und er nickte lächelnd.
„Treffen wir
uns nach der Arbeit vielleicht?“ Nick hatte es satt um den heißen Brei
herumzureden. Offenbar musste er hier selbst die Zügel in die Hand nehmen.
„Ja gern,
ich arbeite aber bis 19 Uhr im Sally’s Gym. Wenn du magst, kannst du dorthin
kommen und wir gehen dann zusammen aus.“ Nick blickte auf die Uhr. Es war erst
13 Uhr.
„Ein Date im
Fitnessstudio? Warum nicht, ich werde da sein.“ Nick drückte seine Hand und
ließ ihn los. Er dankte ihm mit einem kurzen Nicken für die Jacke und kehrte
zurück ins Schulgebäude. Marco sah ihm durch die Glasfront lange nach, ehe er
sich umdrehte und ging.
Nicks Herz
raste. Er würde seine Schüler an diesem Nachmittag sehr glücklich machen - denn
er war verliebt.
***
„Hey Marco!
Frau Müller ist für ihren 6 Uhr-Termin hier“, säuselte Annette und richtete
ihren blonden Sportpony im Spiegel hinter der Theke des Studios. „Ich wünsche
dir viel Spaß“, kicherte sie ironisch.
Ihre Augen
drückten das Mitleid aus, das sie nicht in Worte fassen wollte. Marco hatte
sich schon damit abgefunden, wieder eine Stunde voller Anspielungen unterhalb
der Gürtellinie zu ertragen. Man konnte meinen, die Frau wäre nicht wegen des Kardiotrainings
hier, sondern suchte schlicht nach gut gebauten Gigolos. Leider war Marco offenbar genau in ihrem
Beuteschema, weshalb sie ihre Termine immer in seine Schicht verlegte.
Er drehte
sich um und sah seine Lieblingskundin zielstrebig auf ihn zusteuern. Ihr
nüchterner Kurzhaarschnitt passte überhaupt nicht zu ihrem pausbäckigen Gesicht
und den fülligen Kurven, die sie in eine hautenge Gymnastikhose gezwängt hatte.
„Mein lieber
Marco, du siehst heute wieder blendend aus! Ein wahres Highlight des Tages“,
sang sie förmlich, während sie ihren Arm um seine Hüfte legte.
„Frau
Müller, es ist eine Freude zu sehen, mit welchem Eifer sie an Ihren
Trainingsplan herangehen. Womit möchten Sie beginnen?“ Sie lachte laut auf.
„Etwas wo
ich unten und du oben bist, wäre mir am liebsten.“ Annette konnte ihren
Eiweißshake kaum im Mund behalten, als sie prustend loslachte. Marco warf ihr
einen tadelnden Blick zu.
„Training an
der Langhantel steht vorerst noch nicht am Programm“ antwortete er gutmütig.
Frau Müller redete noch weiter auf ihn ein, doch seine Aufmerksamkeit wanderte
zu einem jungen Mann am Laufband. Seine braunen halblangen Haare und die
schlanken langen Beine erinnerten ihn an jemanden.
„Marco!“ rief
Annette quer durch den Raum, „Hier ist noch jemand für dich.“
Er drehte
sich um und sah Nick, der ihm fröhlich zuwinkte. Er war zu früh. Marco ließ
seine Kundin links liegen und lief zurück zur Theke.
„Nick, ich
freue mich dich zu sehen“ Er umarmte ihn kurz.
„Ich mich
ebenso. Du siehst toll aus in dem Outfit“, lachte Nick. Annette blies empört
eine lose Strähne aus ihrem Gesicht. „Sag ihm das nicht. Er ist so schon
eingebildet genug. Nicht wahr, schöner Mann.“
„Ach, halt
die Schnauze.“
„Miststück!“
entgegnete Annette auffordernd, ehe sie kurz umarmte und darauf wartete,
vorgestellt zu werden. „Das ist Annette, die gute Seele des Hauses.“
„Er meint,
seine Fag-Hag“, stellte sie klar. „Und
wer bist du, wenn ich fragen darf?“
„Ich bin
Nick. Marco und ich haben uns bei einem Wanderunfall am Wochenende
kennengelernt.“ Nick reichte Annette höflich die Hand, doch sie zog ihn in eine
kurze Umarmung, was hier die übliche Form der Begrüßung zu sein schien.
„Nick ist
Lehrer an einer internationalen Privatschule“, fügte Marco beiläufig hinzu.
Annette pfiff anerkennend.
„Ein
Akademiker. Wow, Marco, du machst die Träumer meiner Mutter wahr. Ich habe
leider nie selbst einen abbekommen“, lachte sie. Nick sah Marcos Gesicht leicht
erröten und lächelte höflich. Dem armen Kerl blieb nichts erspart wie es
schien. Er hoffte, dass dies nicht der Grund für Marcos Zögern war, mit ihm
auszugehen.
„Ich muss
noch kurz meine Kundin fertigmachen, dann bin ich sofort bei dir.“ Er zwinkerte
Nick zu und ging zurück zu Frau Müller.
„Oder sie
ihn“, fügte Annette hinzu und reichte Nick einen Proteinshake als Erfrischung. „Ich
freue mich, dass er wieder mal etwas rauskommt. Ich hoffe du bist nachsichtig
mit ihm.“
Nick hob
überrascht die Augenbrauen. „Wieso denn nachsichtig?“
„Naja, für
ihn ist es nicht einfach.“ Annettes Augen weiteten sich kurz vor Schreck, als
sie bemerkte, dass Nick keine Ahnung hatte, wovon sie sprach. „Sorry, ich rede
und rede die ganze Zeit. Im Grunde geht es mich ja nichts an.“ Ein
hereinkommender Kunde lenkte Annette ab. Nick dachte über die Andeutung nach,
konnte sich aber keinen Reim daraus machen. Zumindest versprach das Date
bereits jetzt interessant zu werden.
Marco war um
Punkt sieben Uhr geduscht und angezogen. Nick hatte ein nettes italienisches
Restaurant ausgesucht, wo sie den Abend mit entspanntem Smalltalk verbrachten.
Nick erfuhr, dass Marco als Jugendlicher die Schule abgebrochen hatte und
seither als Fitnesstrainer arbeitete, während Annette ihn ermutigte einen
Schulabschluss nachzuholen, um sich ein Leben abseits des kleinen Gyms aufbauen
zu können. Seine Eltern hatten ihn nach seinem Coming out nicht unterstützt,
weshalb er seit vielen Jahren auf sich allein gestellt lebte und seinen angeborenen
Bewegungsdrang entweder mit Hanteln im Studio oder beim Laufen über Berge und
gelegentlich auch beim Wildwasserschwimmen auslebte. Von Bungee-Jumping über
Fallschirmspringen schien Marco keine Gelegenheit auszulassen, an seine
körperlichen Grenzen zu gehen. Nick dagegen präsentierte seinen eher
nüchternen, um nicht zu sagen biederen, Lebenslauf. Marco folgte seinen Worten
jedoch mit Begeisterung. Er erzählte von seiner Schulzeit mit Bestnoten, jedoch
wenigen Freunden, seiner Zeit an der Universität, seinem Auslandssemester in
Irland und schließlich seiner Anstellung an der Munich International School, wo
er seit zwei Jahren Deutsch- und Gesamtunterricht für hauptsächlich
englischsprachige Kinder von Mitarbeitern internationaler Organisationen gab.
Nach dem
Essen wollten sie noch zu einem bekannten Nachtclub gehen, aber auf dem Weg
dorthin blieben sie bei einer Parkbank hängen, die einen unvergleichbar schönen
Ausblick auf den Vollmond bot, der am Himmel stand und den aufziehenden Wolken
trotzte. Nick sah Marcos Augen im Mondlicht glitzern und nahm still seine Hand.
Einer plötzlichen Eingebung folgend, lehnte er sich langsam zu ihm und drückte
ihm einen sanften Kuss auf die Wange.
„Ich habe
noch nie so einen interessanten Menschen wie dich getroffen.“, sagte er und
Marcos Augen wandten sich ihm zu. Er streichelte mit seinem Daumen über Nicks
Handrücken. Mit einer schnellen Bewegung wischte er sich über das Gesicht und
Nick erkannte, dass es Tränen waren, die in seinen schönen Augen glänzten.
„Weinst du?“
Nick versetzte ihm einen aufmunternden Stoß mit der Schulter. Marco lachte
schniefend.
„Tut mir
leid. Ich habe mir nur gerade vorgestellt, wie schön es wäre, wenn wir zwei…
Aber ich sollte dir nichts vormachen. Es war ein Fehler.“
Wieder diese
Ablehnung und wieder richtete Marco seinen Blick beschämt zu Boden. Aber
nochmal ließ Nick sich nicht abspeisen. Er kniete sich vor Marco hin und
schüttelte seine Schulter.
„Verdammt
nochmal, sag mir was los ist. Ich finde dich wundervoll, du bist der
liebenswerteste Mensch, den ich je getroffen habe. Und wenn du mich auch
anziehend findest, was sollte dann zwischen uns stehen?“ Marco bedeckte das
Gesicht mit seinen Händen. Er drückte Nicks Arme von sich und stand angespannt
auf. Es schmerzte Nick, ständig Tränen in Marcos blauen Augen zu sehen.
„Du stellst
es dir so einfach vor! Du magst mich, ich mag dich und schon ist alles perfekt.
Aber das ist es nicht!“ Marco begann wütend davon zu stapfen, doch Nick überholte
ihn und stellte ihn zur Rede.
„Und wieso
nicht? Was ist in deinem Leben so schlimm, dass du dich nicht einfach fallen
lassen und einen Neubeginn wagen kannst?“, rief er aufgebracht. Marco zitterte
am ganzen Körper.
„Es gibt für
mich keinen Neubeginn, Nick. Ich bin HIV positiv. Du möchtest einen Freund,
eine Beziehung und Sicherheit. Mein Liebesleben besteht dagegen aus anonymen
Begegnungen mit anderen Positiven in Darkrooms. Ich möchte niemanden in Gefahr bringen.“
Er sank tränenüberströmt auf die Knie. Nick fing ihn in einer sanften Umarmung
und drückte ihn an sich. Sein Schluchzen zerriss ihm das Herz. Erschüttert blickte
er in die Dunkelheit. Ein älteres Ehepaar ging an den beiden Männern vorbei und
starrte sie irritiert an. Marco und Nick saßen am Rand des Weges und hatten
ihre Gesichter in der Schulter des anderen vergraben.
„Ich… ich
hatte keine Ahnung, es tut mir leid“, sagte Nick schließlich mit belegter
Stimme. „Wie lange weißt du es schon?“
Marcos
Schluchzen hatte nachgelassen. Er wischte sich mit dem Ärmel über das Gesicht,
vermied jedoch Nicks Blick. „Ein paar Jahre. Ich habe dem Falschen vertraut und
stand anschließend alleine da.“
„Nimmst du
die Medikamente?“
„Ja, seit
einigen Monaten, aber es geht mir noch echt dreckig damit. Mein Arzt meint, es
dauert bis man sich dran gewöhnt.“ Marco war gebrochen. Von dem trainierten
Fitnessstudioschönling war nicht viel übrig geblieben, während er mit
tränenüberströmtem Gesicht im Mondlicht saß. Er sah um Jahre gealtert aus und
hatte tiefe Furchen im Gesicht, die Nick bei Tag noch nicht aufgefallen waren.
„Möchtest du
nach Hause?“ Es machte nicht viel Sinn weiter am Straßenrand sitzen zu bleiben. Marco stand
auf und klopfte den Staub von seiner Jeans.
„Es tut mir
leid, dass ich dir den Abend verdorben habe“, sagte er leise. Nick legte seine
Hand auf Marcos Schulter und hob sein Kinn, damit er ihm in die Augen sehen
musste.
„Ich danke
dir, dass du ehrlich zu mir bist. Aber ich kann dir versichern, dass das nichts
an meinen Gefühlen für dich ändert. Es ist nur eine Infektion. Ich würde dich
schließlich auch nicht abweisen, wenn du Diabetes… oder nur einen Arm hättest.“
Marco lachte leise auf und befreite sein Kinn aus Nicks Griff.
„Ich könnte
dich niemals in Gefahr bringen…“ Nick drückte seine Lippen auf Marcos Mund und
brachte ihn zum Schweigen. Der Kuss war süß und zärtlich. Nick schmeckte die
salzigen Tränen auf Marcos Haut und vergrub seine Hand in den Haaren seines
Freundes, während die beiden einander gierig erforschten. Als sie sich
schließlich aus der innigen Umarmung lösten, streichelte Nick Marcos Rücken
sanft und rieb seine Nase an den rauen Bartstoppeln, während er ihm leise ins
Ohr flüsterte.
„Für manche
Dinge gibt es Kondome.“ Marcos kräftiger
Körper zitterte in seinen Armen. Plötzlich packte er Nick und hob ihn lachend
in die Luft. Er nahm ihn bei der Hand und begann durch die Nacht zu laufen. Das
Mondlicht war hinter dichten Wolken verschwunden und ein leichter Nieselregen
ging über dem Park nieder. Nick spürte die kühle Nässe auf seiner Haut und war
erleichtert, dass es diesmal keine Tränen waren. Marco lief in die Mitte der
Wiese und blieb abrupt stehen. Nick rannte förmlich in ihn und fand sich in
einer Umarmung wieder, die ihn an einen klassischen Tanz erinnerte. Tatsächlich
begann Marco sich mit ihm rhythmisch im Kreis zu bewegen und sang leise ein
Lied, während der Regen stärker wurde und ihre Kleider an ihren Körpern
klebten. Nick gab sich dem Moment hin und ließ sich von Marcos Armen führen. Als
das Lied zu Ende ging, fanden sich ihre Lippen wieder zu einem Kuss und sie
standen regungslos zusammen im strömenden Regen.
„Zeit nach
Hause zu gehen“, lachte Marco.
„Zu dir oder
zu mir?“ erwiderte Nick zwinkernd.
„Meine
Wohnung ist näher.“ Marco begann wieder
zu laufen und zog Nick mit sich.
Die
U-Bahnstation befand sich direkt am Rande des Parks. Durchnässt und erschöpft
standen sie am Bahnsteig und lachten über ihr unmögliches Aussehen. Nick hielt
Marcos Hand und blickte ihm verliebt in die Augen. Zu spät bemerkten die beiden
die drei Jugendlichen, die sich ihnen näherten.
„Hey. Habt
ihr mal ein paar Euro?“
Marco drehte
sich um und erkannte eine Klinge, die auf ihn gerichtet war.
„Ich würde
das sein lassen, Junge. Für sowas gibt’s Gefängnis. Von mir aus verschwinde und
ich hab nichts gesehen“, knurrte er.
„Gib mir
deine Brieftasche und wir sind sofort weg“, erwiderte der Junge lächelnd.
Marcos
Reaktion war schneller als der Junge erwartet hatte. Ein Kinnhaken streckte ihn
zu Boden und das Messer fiel klirrend auf die Bahngeleise. Ein weiterer Junge
stürzte sich auf Marco und rammte ihm die Faust in die Seite. Ein relativ
harmloser Schlag, doch Marco sank gekrümmt zu Boden. Er hatte das zweite Messer
nicht gesehen, dass sich in der Hand des Angreifers befand. Die blutige Klinge
zitterte, als der Junge das Messer jetzt auf Nick richtete.
„Die…Brieftasche“,
wiederholte der erste. Marco bemerkte mit Entsetzen, wie der Junge mit der
blutigen Klinge auf Nick zuging.
„Gib sie ihm!“,
stöhnte er und warf dem Jungen auch sein eigenes Portemonnaie hin. „Lass bitte
meinen Freund in Ruhe.“
Nick warf
seine Brieftasche auf den Boden. Der Junge rieb sich das schmerzende Kinn und sammelte
beide Portemonnaies ein.
„Scheiß
Schwuchteln. Los, weg.“ Die drei Jugendlichen rannten davon und ließen Marco
am Boden liegen. Nicks Knie wurden weich. Warum stand Marco nicht wieder auf?
Eine sich langsam vergrößernde Blutlache trat unter seinem Rücken hervor.
„Nick…“
Marcos Gesicht war kreidebleich. Nick kniete sich zu ihm, doch Marco hielt ihn
auf Armlänge zurück. „Pass auf, ich blute.“
„Das ist
doch egal. Du bist verletzt! Kannst du aufstehen?“ Er stand unter Schock, doch
auch Nick war nicht Herr seiner Sinne. Was sollte er jetzt machen? Er hatte
kein Telefon bei sich. Gab es hier am Bahnsteig Hilfe? Marco versuchte sich zu
bewegen, sank jedoch mit schmerzverzerrtem Gesicht auf den kalten Fliesenboden
zurück. Es war niemand am Bahnsteig zu sehen.
„Ich muss
Hilfe holen“, stammelte Nick. Marcos Hand ergriff Nicks durchnässtes Hemd und hielt
ihn zurück.
„Lass mich nicht
allein… lass mich nicht allein...“ Die
Blutlache wurde immer größer und Marcos leuchtende blaue Augen verloren ihren
Glanz, als sein Blick durch Nick hindurch glitt und leer wurde.
„Marco….“
Nick begann zu schluchzen und klagend zu weinen. Er schrie um Hilfe, doch
niemand kam. Er wiegte Marcos kraftlosen Körper in seinen Armen und presste ein
Stück Stoff auf die Stichwunde, die nicht aufhörte zu bluten.
Nick wusste
später nicht, wie lange es dauerte, bis Hilfe kam. Die U-Bahnstation war nicht
bemannt, doch die Zentrale hatte den Vorfall dank Videoüberwachung bemerkt und
einen Rettungswagen geschickt. Der Notarzt hatte nur noch den Tod feststellen
können und Nick nach Hause geschickt. Er erinnerte sich an wenig. Irgendwann
schlief er ein und erwachte spät nachts aus schrecklichen Alpträumen, die im
Schein der Lampe noch unheimlicher wurden, als er das getrocknete Blut auf
seinen Händen sah. Er stürzte ins Bad, übergab sich und wollte das Blut
abwaschen, aber er zögerte. War es nicht das einzige, das ihm von Marco blieb?
Die Tage
vergingen. Er hatte sich krank gemeldet und verbrachte die meiste Zeit im Bett.
Einmal ging er zu Sally’s Gym und erfuhr von Annette, dass Marcos Eltern ihn im
Familiengrab beisetzen ließen. Er verabredete sich mit ihr am darauffolgenden
Wochenende und sie besuchten Marcos Grab gemeinsam. Schweigend standen sie
nebeneinander. Sie hatten beide keine Tränen mehr übrig. Eine seltsame Leere
machte sich in Nick breit, als er eine rote Rose auf das Grab legte. Er hatte
die Liebe seines Lebens verloren, noch bevor er sie wirklich gefunden hatte.
Annette
umarmte ihn kurz schweigend und schritt davon. Er war dankbar für die Einsamkeit
und grub seine Finger in die weiche Erde.
„Leb wohl,
Marco. Ich hoffe du findest, was du immer gesucht hast.“
***
Nick hatte sich zur Gewohnheit gemacht, Sally’s Gym und Annette
regelmäßig zu besuchen und Dinge über Marco zu erfahren, die er von ihm selbst
nicht mehr hatte hören können. Dabei fielen ihm eines Tages die Fotos im
Fenster des benachbarten Tattoostudios auf. Es versetzte Nick regelrecht einen
Schlag, als er darauf Marco erkannte, der nur in Unterhose bekleidet für den
Fotografen posierte und sein beeindruckendes Brust- und Ärmeltattoo zeigte. Der
Tattookünstler überließ Nick Abzüge der Fotos und nach reiflicher Überlegung
entschied er sich, einen weiteren Schritt zu gehen, um Marco für immer im
Gedächtnis zu behalten.
***
„Hat das
nicht weh getan?“, fragte Anna und betrachtete voller Staunen das schöne
Ärmeltattoo, das Nicks Arm verzierte und durch das kurze T-Shirt zu sehen war.
„Doch hat
es. Glaubst du, deine Mutter wird es gutheißen?“, lächelte er, während er die
Tafel mit einem nassen Schwamm löschte.
„Ganz sicher
nicht. Ich kann es kaum erwarten bis sie es sieht. Sie sind so cool. Wieso haben Sie es machen lassen?“ Anna packte ihre Schultasche auf ihre übliche Weise –
sie wischte die Gegenstände auf ihrem Tisch mit einer Armbewegung in die
geöffnete Tasche.
„Weil es
mich an einen guten Freund erinnert.“ Nick wollte keine Schwermut vor einer
Schülerin aufkommen lassen, aber der Knoten in seinem Hals hatte sich bereits
geformt.
„Wow, ich
wäre stolz wenn jemand so etwas für mich machen würde. Ich wünsche Ihnen ein
schönes Wochenende.“ Sie lief winkend aus dem Raum.
„Danke,
Anna. Dir auch.“ Nick wandte sich zum Fenster und blickte auf die Bäume. Im
Schulhof hatte jemand ein Radio laufen. Das Lied, das gerade zu hören war,
passte überhaupt nicht zu dem sonnigen Wetter. Es war ein spanischer Pop-Song
mit dem klingenden Refrain „Dancing in the Rain“, den Nick plötzlich als das
Lied erkannte, das Marco in ihrer gemeinsamen Nacht im Park gesungen hatte. Er
ließ den Schwamm fallen und lief nach unten in den Schulhof.
Er blickte
in den klaren blauen Himmel, hob die Arme und spürte die warmen Strahlen der
Sonne auf seinem Gesicht.
Wir tanzen im Regen. Wir tanzen als
gäbe es kein Ende, bis zum Anbruch des Tages. Wir tanzen weiter im Regen. Im
Regen….
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Alle Rechte vorbehalten.
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