Sunday, April 20, 2014

Anfänge

Die Schatten des Nebelwaldes legen sich schwer auf die Seelen unerfahrener Wanderer. Denkt daran: es gibt nur einen Pfad in den Wald – und keinen nach draußen.

Jiroh ignorierte die blasse Warnung der Älteren. Die Kinder des Dorfes schlichen sich gerne  in den nahegelegenen Wald des Südhanges, um  die heißen Mittagsstunden  im Schatten der knorrigen, moosbewachsenen Bäume zu verbringen.  Die Erfahrung hatte sie gelehrt, dass der Weg hinein recht einfach auch wieder nach draußen führte. Weder bewegten sich die Bäume, noch verschwand der Pfad auf geheimnisvolle Weise unter ihren Füßen.  Jiroh war mittlerweile alt genug, um zu wissen, dass der Wald von den Jägern des Dorfes aufgesucht wurde, die es nicht gerne sahen, wenn lärmende Kinder ihre Beute kurz vor dem tödlichen Speerwurf aufschreckten. Es gab keine Geheimnisse oder Schreckgespenster hier, egal was die Älteren über den Wald sagen mochten.

„Jiroh. Sieh mal.“ Der pausbackige Junge, dessen Sommersprossen im von Blättern gefilterten Sonnenlicht  mit seinen feuerroten Haaren um die Wette leuchteten, deutete über den von zahlreichen Bäumen bewachsenen Felsvorsprung.  „Da unten ist jemand.“

Sein Spielgefährte ließ langsam den Ast sinken, den er von einem umgestürzten Baum abreißen wollte und sank auf die Knie. Jirohs Augen,  im Halblicht mehr schwarz als kastanienbraun, funkelten aufgeregt.

„Sind es Maraner?“ Aran rollte die Augen. Jiroh hoffte ständig, eines Tages Spähern  des benachbarten Bergvolkes zu begegnen, die angeblich manchmal in diesen Wäldern unterwegs waren. Mehr als einmal hatten die Älteren den Jungen schon wegen seiner übermäßigen Neugier zurechtgewiesen. Aran vermutete, dass dies Jirohs eigentlicher Grund für die heimlichen Besuche im Nebelwald war. Falls sie tatsächlich eines Tages Menschen von Maran über den Weg laufen sollten, würde Aran als erster das Weite suchen – und Jiroh vermutlich gegen dessen Willen mit sich schleifen.

Er deutete auf die geduckt gehende Figur unterhalb des Felsens. Ein Mann mit einem Speer, der von Spähern und Jägern gleichermaßen getragen wurde, bückte sich nach unten und hob einen Stein vom feuchten Waldboden. Er betrachtete den grauen Brocken konzentriert. Jiroh und Aran zuckten zusammen, als etwas weiter weg ein Rascheln zu hören war, dem der Mann sich zu wendete und nun in ihre Richtung sah.  Er hob seinen Speer und schlich leise ins Unterholz, wodurch er aus dem Blickfeld der Jungen verschwand.

„Das ist doch einer aus unserem Dorf, oder?“ Aran hauchte die Worte mehr als dass er sie sprach. Jiroh hatte ihn trotzdem verstanden und nickte. 

„Ein Späher.  Einer von denen, die nur selten ins Dorf kommen.“ Aran zog die Mundwinkel anerkennend nach unten.

„Dann sollten wir ihm besser nicht über den Weg laufen. Über die Sorte habe ich schon einige unheimliche Geschichten gehört.“  Aran begann sich langsam vom Felsvorsprung zurück zu ziehen, doch Jiroh machte keine Anstalten ihm zu folgen.

„Aber bestimmt nicht so viele, wie er gehört hat. Wir sollten mit ihm reden. Komm mit!“ Jiroh kletterte den Felsen auf der weniger steil abfallenden Seite nach unten. Sein bester Freund schickte ihm ein gehauchtes „Spinnst du?!“ mit auf den Weg und duckte sich stattdessen noch tiefer auf der bewachsenen Felsoberkante.

Am Fuß des Felsens sah der drahtige Junge sich um. Der Wanderer war im Dickicht verschwunden. Jiroh, der bereits einige Tage mit den Jägern verbracht hatte, um einen ersten Eindruck von deren Handwerk zu bekommen, versuchte die Spuren im Waldboden zu lesen. Tatsächlich konnte er ein Paar menschlicher Fußabdrücke ausmachen, die jedoch plötzlich verschwanden. Der Junge schob vorsichtig die Äste des dichten Gebüschs zur Seite und zwängte sich zwischen den nach oben drängenden Jungtrieben hindurch.  Der Wald öffnete sich vor ihm zu einer lichtdurchflutenden Lichtung, die an einer Seite von einem tiefen Abgrund begrenzt war. Jiroh kannte den Ort. Am Fuß der schmalen Schlucht befand sich ein tiefer See mit pechschwarzem Wasser, der von keiner Seite direkt zugänglich war. Jiroh und seine Freunde hatten gelegentlich Kadaver unglücklicher Tiere darin treiben sehen, die versehentlich den einzigen Weg in den See genommen hatten: Sie waren vom Rand der felsigen Spalte gestürzt.

Jiroh trat einen Schritt zurück. Die Kante des Abgrunds war moosbewachsen und glitschig und er hatte wenig Lust, Bekanntschaft mit dem fauligen See zu machen.    Ein leises Zischen lenkte ihn plötzlich ab. Jiroh drehte den Kopf der Felswand zu, die seitlich der Lichtung über den Abgrund thronte und fand sich Auge in Auge mit einer riesigen, schwarz glänzenden Wildkatze wieder. Das leise Zischen wandelte sich zu einem kehligen Fauchen, als das Tier ihn mit gelb leuchtenden Augen fixierte und zum Sprung ansetzte. Jiroh erstarrte. Fühlten sich so die letzten Momente im Leben eines Menschen an? Keine Abfolge von Bildern, die an einem vorbeizog? Keine wilden  Fluchtgedanken im Angesicht einer tödlichen Bestie? Jiroh ballte die Fäuste und tat das einzige, das ihm in den Sinn kam. Er schrie die Katze an und lief ihr mit drohend ausgestreckten Armen entgegen.

Das Biest reagierte unbeeindruckt und beantwortete Jirohs Angriff mit einem Fletschen seiner Zähne, ehe es eine geschmeidige Bewegung vollzog und auf Jiroh zu sprang. Doch es war nicht die Katze, die Jiroh von den Füßen riss. Menschliche Hände zogen den Jungen zu Boden und ein Körper rollte sich mit ihm über das weiche Gras der Lichtung. Die Raubkatze war ins Leere gesprungen und wirbelte wütend herum. Sie fixierte erneut ihre Beute, die sich mit einem Mal verdoppelt hatte. Der Späher war bereits wieder auf den Beinen und riss Jiroh gewaltsam am Kragen hoch.

„Lauf.“ Seine Stimme war unerwartet ruhig. Jirohs Blick wechselte von der Katze zu seinem Retter und wieder zurück. Wohin sollte er laufen? Der Fels war ein geradezu lächerlicher Zufluchtsort, wenn man vor einer Wildkatze Schutz suchte und zwischen ihnen und dem Dickicht wartete das schwarze Biest darauf, seine Zähne in ihr Fleisch zu schlagen. Ehe Jiroh eine Entscheidung treffen konnte hatte die Katze ihre muskulösen Beine in Bewegung gesetzt und sprang auf die beiden zu. Der Späher packte Jiroh erneut an der Schulter und stieß ihn mit kräftigen Armen in Richtung des Abgrundes. Der Junge bemerkte einen Strauch, der unterhalb der Kante wuchs, und glitt über den rutschigen Felsen nach unten, wo seine Hände Halt an den kräftigen Ästen fanden, während seine Beine in der Luft baumelten. Seine vor Furcht geweiteten Augen nahmen die Bewegungen des Spähers wahr, der in einem Satz auf die Felswand sprang und sich im selben Moment davon abstieß, als ihn die Katze fast erreicht hatte. In einer schier unglaublichen Bewegung drehte sich der Mann in der Luft und wich dem ins Leere schnappende Maul des Tieres aus, während er gleichzeitig ein großes Messer in den Rücken der Bestie rammte.

Ein markerschütternder Schrei durchschnitt den Wald und scheuchte zahlreiche Vögel in die Luft. Die Katze, nun rasend vor Wut und Schmerz,  drehte sich dem wendigen Mann zu und brüllte ihn mit geiferndem Maul  an, während sie erneut zum Sprung ansetzte. Der Späher drehte sich um und lief auf den Abgrund zu. Die Wildkatze sah ihre Chance und stürzte ihm mit großen Schritten hinterher. Ihre riesigen Krallen  fanden sein Lederhemd im selben Moment, als er über die Kante sprang und versuchte, eine in der Luft hängende Liane zu ergreifen.  Die Katze, blind vor Schmerz, stürzte ohne Rücksicht auf die Schlucht hinterher. Seine Hände fanden die Schlingpflanze und er hielt sich mit aller Kraft daran fest, während das Gewicht der Katze, ihre Krallen tief in seinen Rücken versunken, ihn nach unten zog und einen tiefen Schnitt in sein Fleisch riss. In einer geistesgegenwärtigen Bewegung schwang er seine Beine nach oben und  hakte sie in der Liane ein, sodass sich die gebogene Kralle endlich aus seinem Fleisch löste und die Bestie haltlos in die Tiefe stürzte, wo sie mit einem lauten Klatschen im schwarzen Wasser verschwand.

Jiroh beobachtete den Fall und die verzweifelten Versuche der Katze, sich auf den glatten Felsen hochzuziehen, die das tiefe Wasser begrenzten. Doch ihre Verletzung war schwer und ihre Versuche verloren zunehmend an Kraft, bis sie sich schließlich nicht mehr an der Oberfläche halten konnte und im dunklen Wasser verschwand.  Seine Augen verfolgten die letzten Luftbläschen auf dem Wasser, ehe er seinen Blick hob und den schwer verletzten Späher beobachtete, der die Liane langsam entlang kletterte, um dem tödlichen Abgrund zu entkommen. Jiroh versuchte sich ebenfalls hochzuziehen, aber seine Beine fanden auf dem Fels keinen Halt und zu seinem Entsetzen spürte er seine Hände schwächer werden, die sich bisher eisern um die Äste des Strauches geschlossen hatten. Er wagte es nicht, eine Hand zu lösen, um weiter oben Halt zu suchen. Wenn der Fremde es nicht schaffte sich auf die Lichtung zu retten, wäre auch Jiroh verloren. Er blickte verzweifelt nach unten, wo der Abgrund vor seinen Augen verschwamm und die Welt sich zu drehen begann. Panik stieg in ihm auf. Gerade als seine Finger sich gegen seinen Willen öffneten, spürte er eine Hand, die sich um seinen Arm schloss.

„Da bist du ja! Verdammt, ich hatte Todesangst!“ Aran zog ihn mit all seiner Kraft nach oben und zerrte ihn über die mit schleimigen Algen überwachsene Kante des Abgrunds. „Ich dachte die Katze hätte dich gefressen! Der Kampf klang als hätte sie dir die Haut bei lebendigem Leib abgezogen. Wie hast du das bloß überlebt, du sturer Dummkopf?!“ Jiroh lag schwer atmend auf dem Rücken und betrachtete seine abgeschürften, zitternden Hände.

„Der Fremde… er hat die Katze getötet.“ Die Welt war mit einem Mal wieder klar vor Jirohs Augen. Wo war der Späher? Er rollte zur Seite und sah sich um. Eine bleiche Hand lag am Rand der Schlucht auf der gegenüberliegenden Seite der Lichtung und es dauerte einen Moment, ehe Jiroh realisierte, dass der Körper des Mannes unterhalb des Felsvorsprunges hängen musste. Jiroh sprang auf und rannte über das weiche Gras. Die Hand des Mannes hatte ein Büschel Gras umschlossen, das seinen Absturz verzögerte. Die beiden Jungen packten den Arm des Fremden und zogen ihn gemeinsam auf die Lichtung. Aran wich mit einem Aufschrei zurück. Der Rücken des Fremden lag in Fetzen und  das  Blut lief in Strömen über seine Beine. Der Späher blickte Jiroh mit müden Augen an, die sich erschöpft schlossen, als er auf dem weichen Gras lag.

Jiroh und Aran wechselten hilflose Blicke.

„Wir müssen ihn ins Dorf bringen!“ Jiroh griff unter die Arme des Mannes, um ihn hochzuziehen.

„Darf man ihn überhaupt bewegen? Sieh dir mal diese riesige Wunde an!“ Die Panik in Arans Stimme verunsicherte Jiroh. Wenn sie ihn hier liegen ließen um Hilfe zu holen, wäre er ein leichtes Fressen für die zahlreichen anderen Raubtiere  des Nebelwaldes. Nicht alle Warnungen der Älteren waren an Jiroh ungehört vorbeigegangen.  Er schloss kurz die Augen und konzentrierte sich.  Wenige Meter entfernt lag das blutige Messer, das der Späher der Katze während seines todesmutigen Sprunges in den Rücken gerammt hatte. Sie hatte es offenbar abgeschüttelt.  Sein Blick wanderte zum Dickicht, das aus zahlreichen, glatten  nach oben strebenden Ästen bestand.

„Hol das Messer und zerschneide sein Lederhemd. Dann nimm meine und deine Jacken. Ich hole zwei starke Äste. Wir bauen eine Bahre und tragen ihn zurück ins Dorf.“

Mit zitternden Händen ging Aran ans Werk. Das Hemd des Mannes war jedoch nur noch ein grober Fetzen, den Aran vorsichtig unter seinem Körper hervorzog. Jiroh brachte zwei Äste, die stark, aber doch leicht genug waren, um als Bahre zu dienen. Die beiden Jungen banden die Äste mit ihren Jacken und dem Leder des Spähers zu einer notdürftigen Bahre zusammen. Vorsichtig hoben sie den Mann an und legten ihn mit dem Rücken nach oben auf die Tragefläche. Die Rückkehr ins Dorf gestaltete sich schwierig. Der unebene Boden des Waldes, die zahlreichen Bäume und Sträucher, die für zwei Jungen unter normalen Bedingungen keinerlei Hindernis darstellten, wurden mit ihrer Last zu fast unüberwindbaren Hürden. Schweißgebadet erreichten sie endlich den Waldrand und Jiroh rannte so schnell ihn seine Beine trugen zum nächstgelegenen Haus des Dorfes.  Wenige Minuten später befand sich der Verletzte bereits in der Obhut des Heilers und der Vorsitzende des Ältestenrates winkte die aufgelösten Jungen auf dem Dorfplatz zu sich. Seine Augen funkelten aufgebracht und die beiden senkten eingeschüchtert ihre Köpfe.

„Jiroh und Aran. Ihr habt gegen unseren Rat den Nebelwald betreten und euch damit in große Gefahr gebracht. Seid ihr euch dessen bewusst?“ Der alte Mann hob tadelnd seinen Zeigefinger. Die beiden Jungen blickten beschämt zu Boden.

„Ihr habt jedoch sehr mutig gehandelt und Moru zu uns zurück gebracht. Darum sei euch euer Fehler verziehen.“ Der Alte trat näher und tätschelte Arans Wange. Der Junge schreckte kurz zurück, begann dann jedoch zu lächeln.  Der Mann wandte sich ab, doch Jiroh hielt seine Hand fest.
„Moru ist ein Späher, nicht wahr? Was hat er im Wald gesucht?“  Jiroh hielt dem strengen Blick des Alten stand.

„Die Antwort auf diese Frage hast du am eigenen Leib erfahren. Unsere Jäger haben von einer Bestie berichtet, die das Wild im Nebelwald dezimiert.  Wir haben Moru geschickt, um dem Tier eine Falle zu stellen.“ Seine zusammengepressten Lippen warnten Jiroh, weitere Fragen zu stellen und er senkte respektvoll den Blick.  Die Züge des Mannes wurden jedoch weicher als er sagte: „Wir sind dir dankbar, dass du Moru zurück gebracht hast. Sein Auftrag ist erfüllt.“

Aran war zu seiner Familie zurückgekehrt und ließ Jiroh alleine am Marktplatz vor dem Haus des Heilers zurück. Er saß auf dem Rand des steinernen Brunnens und blickte verloren auf die verschlossene Tür des Hauses. Gelegentlich kam eine Gruppe von Frauen vorbei und warf ihm einen neugierigen Blick zu. Kurz vor Einbruch der Dunkelheit öffnete sich die Tür und der bärtige Heiler verließ das Haus. Jiroh nutzte den Moment und lief auf den Mann zu.

„Wie geht es Moru? Wird er wieder gesund?“ Sein besorgter Blick überraschte den alten Mann und er lächelte ihn freundlich an.

„Er wird es schaffen, mein Junge. Moru ist ein junger Mann und ein kräftiger Kerl obendrein.“ Der Heiler tätschelte kurz Jirohs Kopf und wandte sich ab.

„Er hat mich gerettet.“ Jiroh spürte Tränen in seinen Augen, als er dem Mann einige Schritte folgte. Der Heiler hielt inne und dreht sich um, eine Augenbraue hochgezogen.

„Dann solltest du dich wohl bei ihm bedanken, Junge. Komm wieder wenn er wach ist. Für heute hattet ihr alle genug Aufregung.“ Der alte Mann setzte seinen Weg fort und ließ Jiroh auf dem abendlichen Marktplatz zurück.

Jiroh betrat kurz darauf das Haus seiner Eltern, das er nun mit seiner Schwester teilte. Er legte sich auf sein Bett ohne ein weiteres Wort über sein überstandenes Abenteuer zu verlieren. Shaira schien noch nichts davon gehört zu haben, denn sie begrüßte ihn wie jeden Abend mit einem freundlichen Lächeln, das einem besorgten Stirnrunzeln wich, als er sein Abendmahl nicht anrührte. Doch wie so oft ließ sie ihn gewähren ohne Fragen zu stellen. Das schätzte Jiroh sehr an ihr. Seit dem Tod seiner Eltern hatte Shaira die Aufgaben ihrer Mutter übernommen und versorgte den gemeinsamen Haushalt. Jiroh fehlten ihre Eltern sehr, doch er schätzte sich glücklich, Shaira um sich zu haben. Seine Schwester sprach nicht viel seit sie auf sich alleine gestellt waren, aber Jiroh verstand sich mit ihr meist auch ohne vieler Worte. Gerade an diesem Abend hatte er ohnehin wenig Lust auf ein Gespräch. Er schlief in dieser Nacht wenig und stand vor Einbruch der Dämmerung wieder am Marktplatz, um vor der Tür des Heilers zu warten. Die Sonne stand hoch am Himmel, als die Tür sich öffnete und der alte Mann gähnend ins Freie trat. Er sah Jiroh, seufzte und winkte ihn zu sich.

„Er ist wach, Junge. Aber fasse dich kurz.“

Jiroh betrat den großen Raum in dem mehrere leere Betten standen. Am hinteren Ende des Raumes war ein Bett belegt und Jiroh ging bedächtig darauf zu. Der Mann, der ihm gestern mit schier übermenschlicher Kraft das Leben gerettet hatte, lag zusammengesunken auf dem Bauch. Die Bettdecke reichte bis zu seiner Hüfte. Der gesamte Rücken war bandagiert und der Verband schien  eben erst gewechselt worden zu sein. Moru, Jiroh erinnerte sich an den Namen, den ihm der Dorfälteste gestern genannt hatte, lag mit geschlossenen Augen auf dem flachen Kissen. Ein Arm hing außerhalb des niedrigen Bettes auf den kalten Steinboden, als wolle er sich damit abstützen.

Jiroh kniete sich nieder und setzte sich neben das Bett. Der Mann öffnete langsam die Augen. Überrascht zwinkerte er. Jiroh wollte ihn fragen, wie es ihm ging, aber in Anbetracht der Situation schien ihm dies äußerst unpassend.

„Danke für gestern.“ sagte er schließlich. Moru lächelte und versuchte zu antworten, aber der Versuch schien ihm Schmerzen zu bereiten und er schloss die Augen. Jiroh ergriff schnell seine Hand und drückte sie.

„Es tut mir leid, dass ich so unvorsichtig war. Ich habe dich im Wald gesehen und wollte mit dir sprechen. Plötzlich stand diese Bestie vor mir. Ich hatte keine Ahnung…“ Moru drückte Jirohs Hand und öffnete seine blauen Augen. Das rabenschwarze Haar klebte an seiner Stirn.

„Ich möchte auch einmal Späher werden.“  Jiroh standen Tränen in den Augen. Moru lächelte. Er hob seine Hand und tätschelte seinen Kopf. Jiroh hasste es, wenn Erwachsene dies taten. Er war nun schließlich fast selbst ein Mann.   Moru zuckte mit vor Schmerz zusammengezogenen Brauen zurück.

„Soll ich dir etwas bringen? Hast du Durst?“ Jiroh beobachtet die Bewegung von Morus Lippen. Er formte ein lautloses „Nein“ und schloss seine Augen wieder. Jiroh nahm wieder seine Hand und wartete, bis Moru eingeschlafen war, ehe er das Haus des Heilers verließ.

Jiroh hatte bemerkt, dass Moru nur wenige Jahre älter als er selbst sein konnte. Er kannte die von der Sonne gegerbten Gesichter der Erwachsenen, die sich mit zunehmendem Alter in Falten legten. Morus Gesicht war braungebrannt, doch jugendlich. Jiroh schätzte ihn auf ungefähr 20 Jahreszyklen.  

Sobald es ihm besser ging, würde er Moru fragen, wie er selbst zu einem Späher werden könne. Fremde Dörfer und weit entfernte Landstriche zu sehen, schien ihm so viel interessanter zu sein, als sein ganzes Leben als Getreidebauer, Jäger oder Handwerker zu verbringen.

Jiroh legte sich an diesem Abend mit einem Lächeln auf den Lippen schlafen und träumte von seinen späteren Reisen. Doch immer wieder kehrten seine Träume zurück zu Moru und der starken Hand, die er zärtlich in seiner gehalten hatte.  

© Copyright 2014, Jiroh Windwalker 

Alle Rechte vorbehalten. 

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