Die Schatten des
Nebelwaldes legen sich schwer auf die Seelen unerfahrener Wanderer. Denkt
daran: es gibt nur einen Pfad in den Wald – und keinen nach draußen.
Jiroh ignorierte die blasse Warnung der Älteren. Die Kinder
des Dorfes schlichen sich gerne in den
nahegelegenen Wald des Südhanges, um die
heißen Mittagsstunden im Schatten der
knorrigen, moosbewachsenen Bäume zu verbringen. Die Erfahrung hatte sie gelehrt, dass der Weg
hinein recht einfach auch wieder nach draußen führte. Weder bewegten sich die
Bäume, noch verschwand der Pfad auf geheimnisvolle Weise unter ihren
Füßen. Jiroh war mittlerweile alt genug,
um zu wissen, dass der Wald von den Jägern des Dorfes aufgesucht wurde, die es
nicht gerne sahen, wenn lärmende Kinder ihre Beute kurz vor dem tödlichen
Speerwurf aufschreckten. Es gab keine Geheimnisse oder Schreckgespenster hier, egal
was die Älteren über den Wald sagen mochten.
„Jiroh. Sieh mal.“ Der pausbackige Junge, dessen
Sommersprossen im von Blättern gefilterten Sonnenlicht mit seinen feuerroten Haaren um die Wette leuchteten,
deutete über den von zahlreichen Bäumen bewachsenen Felsvorsprung. „Da unten ist jemand.“
Sein Spielgefährte ließ langsam den Ast sinken, den er von
einem umgestürzten Baum abreißen wollte und sank auf die Knie. Jirohs
Augen, im Halblicht mehr schwarz als
kastanienbraun, funkelten aufgeregt.
„Sind es Maraner?“ Aran rollte die Augen. Jiroh hoffte
ständig, eines Tages Spähern des
benachbarten Bergvolkes zu begegnen, die angeblich manchmal in diesen Wäldern
unterwegs waren. Mehr als einmal hatten die Älteren den Jungen schon wegen seiner
übermäßigen Neugier zurechtgewiesen. Aran vermutete, dass dies Jirohs
eigentlicher Grund für die heimlichen Besuche im Nebelwald war. Falls sie
tatsächlich eines Tages Menschen von Maran über den Weg laufen sollten, würde
Aran als erster das Weite suchen – und Jiroh vermutlich gegen dessen Willen mit
sich schleifen.
Er deutete auf die geduckt gehende Figur unterhalb des
Felsens. Ein Mann mit einem Speer, der von Spähern und Jägern gleichermaßen
getragen wurde, bückte sich nach unten und hob einen Stein vom feuchten
Waldboden. Er betrachtete den grauen Brocken konzentriert. Jiroh und Aran
zuckten zusammen, als etwas weiter weg ein Rascheln zu hören war, dem der Mann
sich zu wendete und nun in ihre Richtung sah. Er hob seinen Speer und schlich leise ins Unterholz,
wodurch er aus dem Blickfeld der Jungen verschwand.
„Das ist doch einer aus unserem Dorf, oder?“ Aran hauchte
die Worte mehr als dass er sie sprach. Jiroh hatte ihn trotzdem verstanden und
nickte.
„Ein Späher. Einer
von denen, die nur selten ins Dorf kommen.“ Aran zog die Mundwinkel anerkennend
nach unten.
„Dann sollten wir ihm besser nicht über den Weg laufen. Über
die Sorte habe ich schon einige unheimliche Geschichten gehört.“ Aran begann sich langsam vom Felsvorsprung
zurück zu ziehen, doch Jiroh machte keine Anstalten ihm zu folgen.
„Aber bestimmt nicht so viele, wie er gehört hat. Wir
sollten mit ihm reden. Komm mit!“ Jiroh kletterte den Felsen auf der weniger
steil abfallenden Seite nach unten. Sein bester Freund schickte ihm ein gehauchtes
„Spinnst du?!“ mit auf den Weg und duckte sich stattdessen noch tiefer auf der
bewachsenen Felsoberkante.
Am Fuß des Felsens sah der drahtige Junge sich um. Der
Wanderer war im Dickicht verschwunden. Jiroh, der bereits einige Tage mit den
Jägern verbracht hatte, um einen ersten Eindruck von deren Handwerk zu
bekommen, versuchte die Spuren im Waldboden zu lesen. Tatsächlich konnte er ein
Paar menschlicher Fußabdrücke ausmachen, die jedoch plötzlich verschwanden. Der
Junge schob vorsichtig die Äste des dichten Gebüschs zur Seite und zwängte sich
zwischen den nach oben drängenden Jungtrieben hindurch. Der Wald öffnete sich vor ihm zu einer
lichtdurchflutenden Lichtung, die an einer Seite von einem tiefen Abgrund
begrenzt war. Jiroh kannte den Ort. Am Fuß der schmalen Schlucht befand sich
ein tiefer See mit pechschwarzem Wasser, der von keiner Seite direkt zugänglich
war. Jiroh und seine Freunde hatten gelegentlich Kadaver unglücklicher Tiere
darin treiben sehen, die versehentlich den einzigen Weg in den See genommen
hatten: Sie waren vom Rand der felsigen Spalte gestürzt.
Jiroh trat einen Schritt zurück. Die Kante des Abgrunds war
moosbewachsen und glitschig und er hatte wenig Lust, Bekanntschaft mit dem
fauligen See zu machen. Ein leises Zischen lenkte ihn plötzlich ab.
Jiroh drehte den Kopf der Felswand zu, die seitlich der Lichtung über den
Abgrund thronte und fand sich Auge in Auge mit einer riesigen, schwarz
glänzenden Wildkatze wieder. Das leise Zischen wandelte sich zu einem kehligen
Fauchen, als das Tier ihn mit gelb leuchtenden Augen fixierte und zum Sprung
ansetzte. Jiroh erstarrte. Fühlten sich so die letzten Momente im Leben eines
Menschen an? Keine Abfolge von Bildern, die an einem vorbeizog? Keine
wilden Fluchtgedanken im Angesicht einer
tödlichen Bestie? Jiroh ballte die Fäuste und tat das einzige, das ihm in den
Sinn kam. Er schrie die Katze an und lief ihr mit drohend ausgestreckten Armen
entgegen.
Das Biest reagierte unbeeindruckt und beantwortete Jirohs Angriff
mit einem Fletschen seiner Zähne, ehe es eine geschmeidige Bewegung vollzog und auf Jiroh zu sprang. Doch es war nicht die Katze, die Jiroh von den Füßen riss.
Menschliche Hände zogen den Jungen zu Boden und ein Körper rollte sich mit ihm
über das weiche Gras der Lichtung. Die Raubkatze war ins Leere gesprungen und
wirbelte wütend herum. Sie fixierte erneut ihre Beute, die sich mit einem Mal
verdoppelt hatte. Der Späher war bereits wieder auf den Beinen und riss Jiroh
gewaltsam am Kragen hoch.
„Lauf.“ Seine Stimme war unerwartet ruhig. Jirohs Blick
wechselte von der Katze zu seinem Retter und wieder zurück. Wohin sollte er
laufen? Der Fels war ein geradezu lächerlicher Zufluchtsort, wenn man vor einer
Wildkatze Schutz suchte und zwischen ihnen und dem Dickicht wartete das
schwarze Biest darauf, seine Zähne in ihr Fleisch zu schlagen. Ehe Jiroh eine
Entscheidung treffen konnte hatte die Katze ihre muskulösen Beine in Bewegung
gesetzt und sprang auf die beiden zu. Der Späher packte Jiroh erneut an der
Schulter und stieß ihn mit kräftigen Armen in Richtung des Abgrundes. Der Junge
bemerkte einen Strauch, der unterhalb der Kante wuchs, und glitt über den
rutschigen Felsen nach unten, wo seine Hände Halt an den kräftigen Ästen
fanden, während seine Beine in der Luft baumelten. Seine vor Furcht geweiteten
Augen nahmen die Bewegungen des Spähers wahr, der in einem Satz auf die
Felswand sprang und sich im selben Moment davon abstieß, als ihn die Katze fast
erreicht hatte. In einer schier unglaublichen Bewegung drehte sich der Mann in
der Luft und wich dem ins Leere schnappende Maul des Tieres aus, während er
gleichzeitig ein großes Messer in den Rücken der Bestie rammte.
Ein markerschütternder Schrei durchschnitt den Wald und scheuchte
zahlreiche Vögel in die Luft. Die Katze, nun rasend vor Wut und Schmerz, drehte sich dem wendigen Mann zu und brüllte
ihn mit geiferndem Maul an, während sie
erneut zum Sprung ansetzte. Der Späher drehte sich um und lief auf den Abgrund
zu. Die Wildkatze sah ihre Chance und stürzte ihm mit großen Schritten
hinterher. Ihre riesigen Krallen fanden
sein Lederhemd im selben Moment, als er über die Kante sprang und versuchte,
eine in der Luft hängende Liane zu ergreifen. Die Katze, blind vor Schmerz, stürzte ohne
Rücksicht auf die Schlucht hinterher. Seine Hände fanden die Schlingpflanze und
er hielt sich mit aller Kraft daran fest, während das Gewicht der Katze, ihre
Krallen tief in seinen Rücken versunken, ihn nach unten zog und einen tiefen
Schnitt in sein Fleisch riss. In einer geistesgegenwärtigen Bewegung schwang er
seine Beine nach oben und hakte sie in
der Liane ein, sodass sich die gebogene Kralle endlich aus seinem Fleisch löste
und die Bestie haltlos in die Tiefe stürzte, wo sie mit einem lauten Klatschen
im schwarzen Wasser verschwand.
Jiroh beobachtete den Fall und die verzweifelten Versuche
der Katze, sich auf den glatten Felsen hochzuziehen, die das tiefe Wasser
begrenzten. Doch ihre Verletzung war schwer und ihre Versuche verloren
zunehmend an Kraft, bis sie sich schließlich nicht mehr an der Oberfläche
halten konnte und im dunklen Wasser verschwand.
Seine Augen verfolgten die letzten Luftbläschen auf dem Wasser, ehe er
seinen Blick hob und den schwer verletzten Späher beobachtete, der die Liane
langsam entlang kletterte, um dem tödlichen Abgrund zu entkommen. Jiroh
versuchte sich ebenfalls hochzuziehen, aber seine Beine fanden auf dem Fels
keinen Halt und zu seinem Entsetzen spürte er seine Hände schwächer werden, die
sich bisher eisern um die Äste des Strauches geschlossen hatten. Er wagte es
nicht, eine Hand zu lösen, um weiter oben Halt zu suchen. Wenn der Fremde es
nicht schaffte sich auf die Lichtung zu retten, wäre auch Jiroh verloren. Er
blickte verzweifelt nach unten, wo der Abgrund vor seinen Augen verschwamm und
die Welt sich zu drehen begann. Panik stieg in ihm auf. Gerade als seine Finger
sich gegen seinen Willen öffneten, spürte er eine Hand, die sich um seinen Arm
schloss.
„Da bist du ja! Verdammt, ich hatte Todesangst!“ Aran zog
ihn mit all seiner Kraft nach oben und zerrte ihn über die mit schleimigen
Algen überwachsene Kante des Abgrunds. „Ich dachte die Katze hätte dich
gefressen! Der Kampf klang als hätte sie dir die Haut bei lebendigem Leib
abgezogen. Wie hast du das bloß überlebt, du sturer Dummkopf?!“ Jiroh lag
schwer atmend auf dem Rücken und betrachtete seine abgeschürften, zitternden
Hände.
„Der Fremde… er hat die Katze getötet.“ Die Welt war mit
einem Mal wieder klar vor Jirohs Augen. Wo war der Späher? Er rollte zur Seite
und sah sich um. Eine bleiche Hand lag am Rand der Schlucht auf der
gegenüberliegenden Seite der Lichtung und es dauerte einen Moment, ehe Jiroh
realisierte, dass der Körper des Mannes unterhalb des Felsvorsprunges hängen
musste. Jiroh sprang auf und rannte über das weiche Gras. Die Hand des Mannes
hatte ein Büschel Gras umschlossen, das seinen Absturz verzögerte. Die beiden
Jungen packten den Arm des Fremden und zogen ihn gemeinsam auf die Lichtung.
Aran wich mit einem Aufschrei zurück. Der Rücken des Fremden lag in Fetzen
und das Blut lief in Strömen über seine Beine. Der
Späher blickte Jiroh mit müden Augen an, die sich erschöpft schlossen, als er
auf dem weichen Gras lag.
Jiroh und Aran wechselten hilflose Blicke.
„Wir müssen ihn ins Dorf bringen!“ Jiroh griff unter die
Arme des Mannes, um ihn hochzuziehen.
„Darf man ihn überhaupt bewegen? Sieh dir mal diese riesige
Wunde an!“ Die Panik in Arans Stimme verunsicherte Jiroh. Wenn sie ihn hier liegen
ließen um Hilfe zu holen, wäre er ein leichtes Fressen für die zahlreichen
anderen Raubtiere des Nebelwaldes. Nicht
alle Warnungen der Älteren waren an Jiroh ungehört vorbeigegangen. Er schloss kurz die Augen und konzentrierte
sich. Wenige Meter entfernt lag das
blutige Messer, das der Späher der Katze während seines todesmutigen Sprunges
in den Rücken gerammt hatte. Sie hatte es offenbar abgeschüttelt. Sein Blick wanderte zum Dickicht, das aus
zahlreichen, glatten nach oben
strebenden Ästen bestand.
„Hol das Messer und zerschneide sein Lederhemd. Dann nimm
meine und deine Jacken. Ich hole zwei starke Äste. Wir bauen eine Bahre und
tragen ihn zurück ins Dorf.“
Mit zitternden Händen ging Aran ans Werk. Das Hemd des
Mannes war jedoch nur noch ein grober Fetzen, den Aran vorsichtig unter seinem
Körper hervorzog. Jiroh brachte zwei Äste, die stark, aber doch leicht genug
waren, um als Bahre zu dienen. Die beiden Jungen banden die Äste mit ihren
Jacken und dem Leder des Spähers zu einer notdürftigen Bahre zusammen.
Vorsichtig hoben sie den Mann an und legten ihn mit dem Rücken nach oben auf
die Tragefläche. Die Rückkehr ins Dorf gestaltete sich schwierig. Der unebene
Boden des Waldes, die zahlreichen Bäume und Sträucher, die für zwei Jungen unter
normalen Bedingungen keinerlei Hindernis darstellten, wurden mit ihrer Last zu
fast unüberwindbaren Hürden. Schweißgebadet erreichten sie endlich den Waldrand
und Jiroh rannte so schnell ihn seine Beine trugen zum nächstgelegenen Haus des
Dorfes. Wenige Minuten später befand
sich der Verletzte bereits in der Obhut des Heilers und der Vorsitzende des
Ältestenrates winkte die aufgelösten Jungen auf dem Dorfplatz zu sich. Seine
Augen funkelten aufgebracht und die beiden senkten eingeschüchtert ihre Köpfe.
„Jiroh und Aran. Ihr habt gegen unseren Rat den Nebelwald
betreten und euch damit in große Gefahr gebracht. Seid ihr euch dessen
bewusst?“ Der alte Mann hob tadelnd seinen Zeigefinger. Die beiden Jungen
blickten beschämt zu Boden.
„Ihr habt jedoch sehr mutig gehandelt und Moru zu uns zurück
gebracht. Darum sei euch euer Fehler verziehen.“ Der Alte trat näher und
tätschelte Arans Wange. Der Junge schreckte kurz zurück, begann dann jedoch zu
lächeln. Der Mann wandte sich ab, doch
Jiroh hielt seine Hand fest.
„Moru ist ein Späher, nicht wahr? Was hat er im Wald
gesucht?“ Jiroh hielt dem strengen Blick
des Alten stand.
„Die Antwort auf diese Frage hast du am eigenen Leib
erfahren. Unsere Jäger haben von einer Bestie berichtet, die das Wild im Nebelwald
dezimiert. Wir haben Moru geschickt, um
dem Tier eine Falle zu stellen.“ Seine zusammengepressten Lippen warnten Jiroh,
weitere Fragen zu stellen und er senkte respektvoll den Blick. Die Züge des Mannes wurden jedoch weicher als
er sagte: „Wir sind dir dankbar, dass du Moru zurück gebracht hast. Sein
Auftrag ist erfüllt.“
Aran war zu seiner Familie zurückgekehrt und ließ Jiroh
alleine am Marktplatz vor dem Haus des Heilers zurück. Er saß auf dem Rand des
steinernen Brunnens und blickte verloren auf die verschlossene Tür des Hauses.
Gelegentlich kam eine Gruppe von Frauen vorbei und warf ihm einen neugierigen
Blick zu. Kurz vor Einbruch der Dunkelheit öffnete sich die Tür und der bärtige
Heiler verließ das Haus. Jiroh nutzte den Moment und lief auf den Mann zu.
„Wie geht es Moru? Wird er wieder gesund?“ Sein besorgter
Blick überraschte den alten Mann und er lächelte ihn freundlich an.
„Er wird es schaffen, mein Junge. Moru ist ein junger Mann
und ein kräftiger Kerl obendrein.“ Der Heiler tätschelte kurz Jirohs Kopf und
wandte sich ab.
„Er hat mich gerettet.“ Jiroh spürte Tränen in seinen Augen,
als er dem Mann einige Schritte folgte. Der Heiler hielt inne und dreht sich um,
eine Augenbraue hochgezogen.
„Dann solltest du dich wohl bei ihm bedanken, Junge. Komm
wieder wenn er wach ist. Für heute hattet ihr alle genug Aufregung.“ Der alte
Mann setzte seinen Weg fort und ließ Jiroh auf dem abendlichen Marktplatz
zurück.
Jiroh betrat kurz darauf das Haus seiner Eltern, das er nun
mit seiner Schwester teilte. Er legte sich auf sein Bett ohne ein weiteres Wort
über sein überstandenes Abenteuer zu verlieren. Shaira schien noch nichts davon
gehört zu haben, denn sie begrüßte ihn wie jeden Abend mit einem freundlichen
Lächeln, das einem besorgten Stirnrunzeln wich, als er sein Abendmahl nicht
anrührte. Doch wie so oft ließ sie ihn gewähren ohne Fragen zu stellen. Das
schätzte Jiroh sehr an ihr. Seit dem Tod seiner Eltern hatte Shaira die
Aufgaben ihrer Mutter übernommen und versorgte den gemeinsamen Haushalt. Jiroh
fehlten ihre Eltern sehr, doch er schätzte sich glücklich, Shaira um sich zu
haben. Seine Schwester sprach nicht viel seit sie auf sich alleine gestellt
waren, aber Jiroh verstand sich mit ihr meist auch ohne vieler Worte. Gerade an
diesem Abend hatte er ohnehin wenig Lust auf ein Gespräch. Er schlief in dieser
Nacht wenig und stand vor Einbruch der Dämmerung wieder am Marktplatz, um vor
der Tür des Heilers zu warten. Die Sonne stand hoch am Himmel, als die Tür sich
öffnete und der alte Mann gähnend ins Freie trat. Er sah Jiroh, seufzte und
winkte ihn zu sich.
„Er ist wach, Junge. Aber fasse dich kurz.“
Jiroh betrat den großen Raum in dem mehrere leere Betten
standen. Am hinteren Ende des Raumes war ein Bett belegt und Jiroh ging
bedächtig darauf zu. Der Mann, der ihm gestern mit schier übermenschlicher
Kraft das Leben gerettet hatte, lag zusammengesunken auf dem Bauch. Die
Bettdecke reichte bis zu seiner Hüfte. Der gesamte Rücken war bandagiert und der
Verband schien eben erst gewechselt
worden zu sein. Moru, Jiroh erinnerte sich an den Namen, den ihm der
Dorfälteste gestern genannt hatte, lag mit geschlossenen Augen auf dem flachen
Kissen. Ein Arm hing außerhalb des niedrigen Bettes auf den kalten Steinboden, als
wolle er sich damit abstützen.
Jiroh kniete sich nieder und setzte sich neben das Bett. Der
Mann öffnete langsam die Augen. Überrascht zwinkerte er. Jiroh wollte ihn
fragen, wie es ihm ging, aber in Anbetracht der Situation schien ihm dies
äußerst unpassend.
„Danke für gestern.“ sagte er schließlich. Moru lächelte und
versuchte zu antworten, aber der Versuch schien ihm Schmerzen zu bereiten und
er schloss die Augen. Jiroh ergriff schnell seine Hand und drückte sie.
„Es tut mir leid, dass ich so unvorsichtig war. Ich habe dich
im Wald gesehen und wollte mit dir sprechen. Plötzlich stand diese Bestie vor
mir. Ich hatte keine Ahnung…“ Moru drückte Jirohs Hand und öffnete seine blauen
Augen. Das rabenschwarze Haar klebte an seiner Stirn.
„Ich möchte auch einmal Späher werden.“ Jiroh standen Tränen in den Augen. Moru
lächelte. Er hob seine Hand und tätschelte seinen Kopf. Jiroh hasste es, wenn
Erwachsene dies taten. Er war nun schließlich fast selbst ein Mann. Moru
zuckte mit vor Schmerz zusammengezogenen Brauen zurück.
„Soll ich dir etwas bringen? Hast du Durst?“ Jiroh
beobachtet die Bewegung von Morus Lippen. Er formte ein lautloses „Nein“ und
schloss seine Augen wieder. Jiroh nahm wieder seine Hand und wartete, bis Moru
eingeschlafen war, ehe er das Haus des Heilers verließ.
Jiroh hatte bemerkt, dass Moru nur wenige Jahre älter als er
selbst sein konnte. Er kannte die von der Sonne gegerbten Gesichter der
Erwachsenen, die sich mit zunehmendem Alter in Falten legten. Morus Gesicht war
braungebrannt, doch jugendlich. Jiroh schätzte ihn auf ungefähr 20
Jahreszyklen.
Sobald es ihm besser ging, würde er Moru fragen, wie er
selbst zu einem Späher werden könne. Fremde Dörfer und weit entfernte
Landstriche zu sehen, schien ihm so viel interessanter zu sein, als sein ganzes
Leben als Getreidebauer, Jäger oder Handwerker zu verbringen.
Jiroh legte sich an diesem Abend mit einem Lächeln auf den
Lippen schlafen und träumte von seinen späteren Reisen. Doch immer wieder
kehrten seine Träume zurück zu Moru und der starken Hand, die er zärtlich in
seiner gehalten hatte.
© Copyright 2014, Jiroh
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