Sunday, April 20, 2014

Anfänge

Die Schatten des Nebelwaldes legen sich schwer auf die Seelen unerfahrener Wanderer. Denkt daran: es gibt nur einen Pfad in den Wald – und keinen nach draußen.

Jiroh ignorierte die blasse Warnung der Älteren. Die Kinder des Dorfes schlichen sich gerne  in den nahegelegenen Wald des Südhanges, um  die heißen Mittagsstunden  im Schatten der knorrigen, moosbewachsenen Bäume zu verbringen.  Die Erfahrung hatte sie gelehrt, dass der Weg hinein recht einfach auch wieder nach draußen führte. Weder bewegten sich die Bäume, noch verschwand der Pfad auf geheimnisvolle Weise unter ihren Füßen.  Jiroh war mittlerweile alt genug, um zu wissen, dass der Wald von den Jägern des Dorfes aufgesucht wurde, die es nicht gerne sahen, wenn lärmende Kinder ihre Beute kurz vor dem tödlichen Speerwurf aufschreckten. Es gab keine Geheimnisse oder Schreckgespenster hier, egal was die Älteren über den Wald sagen mochten.

„Jiroh. Sieh mal.“ Der pausbackige Junge, dessen Sommersprossen im von Blättern gefilterten Sonnenlicht  mit seinen feuerroten Haaren um die Wette leuchteten, deutete über den von zahlreichen Bäumen bewachsenen Felsvorsprung.  „Da unten ist jemand.“

Sein Spielgefährte ließ langsam den Ast sinken, den er von einem umgestürzten Baum abreißen wollte und sank auf die Knie. Jirohs Augen,  im Halblicht mehr schwarz als kastanienbraun, funkelten aufgeregt.

„Sind es Maraner?“ Aran rollte die Augen. Jiroh hoffte ständig, eines Tages Spähern  des benachbarten Bergvolkes zu begegnen, die angeblich manchmal in diesen Wäldern unterwegs waren. Mehr als einmal hatten die Älteren den Jungen schon wegen seiner übermäßigen Neugier zurechtgewiesen. Aran vermutete, dass dies Jirohs eigentlicher Grund für die heimlichen Besuche im Nebelwald war. Falls sie tatsächlich eines Tages Menschen von Maran über den Weg laufen sollten, würde Aran als erster das Weite suchen – und Jiroh vermutlich gegen dessen Willen mit sich schleifen.

Er deutete auf die geduckt gehende Figur unterhalb des Felsens. Ein Mann mit einem Speer, der von Spähern und Jägern gleichermaßen getragen wurde, bückte sich nach unten und hob einen Stein vom feuchten Waldboden. Er betrachtete den grauen Brocken konzentriert. Jiroh und Aran zuckten zusammen, als etwas weiter weg ein Rascheln zu hören war, dem der Mann sich zu wendete und nun in ihre Richtung sah.  Er hob seinen Speer und schlich leise ins Unterholz, wodurch er aus dem Blickfeld der Jungen verschwand.

„Das ist doch einer aus unserem Dorf, oder?“ Aran hauchte die Worte mehr als dass er sie sprach. Jiroh hatte ihn trotzdem verstanden und nickte. 

„Ein Späher.  Einer von denen, die nur selten ins Dorf kommen.“ Aran zog die Mundwinkel anerkennend nach unten.

„Dann sollten wir ihm besser nicht über den Weg laufen. Über die Sorte habe ich schon einige unheimliche Geschichten gehört.“  Aran begann sich langsam vom Felsvorsprung zurück zu ziehen, doch Jiroh machte keine Anstalten ihm zu folgen.

„Aber bestimmt nicht so viele, wie er gehört hat. Wir sollten mit ihm reden. Komm mit!“ Jiroh kletterte den Felsen auf der weniger steil abfallenden Seite nach unten. Sein bester Freund schickte ihm ein gehauchtes „Spinnst du?!“ mit auf den Weg und duckte sich stattdessen noch tiefer auf der bewachsenen Felsoberkante.

Am Fuß des Felsens sah der drahtige Junge sich um. Der Wanderer war im Dickicht verschwunden. Jiroh, der bereits einige Tage mit den Jägern verbracht hatte, um einen ersten Eindruck von deren Handwerk zu bekommen, versuchte die Spuren im Waldboden zu lesen. Tatsächlich konnte er ein Paar menschlicher Fußabdrücke ausmachen, die jedoch plötzlich verschwanden. Der Junge schob vorsichtig die Äste des dichten Gebüschs zur Seite und zwängte sich zwischen den nach oben drängenden Jungtrieben hindurch.  Der Wald öffnete sich vor ihm zu einer lichtdurchflutenden Lichtung, die an einer Seite von einem tiefen Abgrund begrenzt war. Jiroh kannte den Ort. Am Fuß der schmalen Schlucht befand sich ein tiefer See mit pechschwarzem Wasser, der von keiner Seite direkt zugänglich war. Jiroh und seine Freunde hatten gelegentlich Kadaver unglücklicher Tiere darin treiben sehen, die versehentlich den einzigen Weg in den See genommen hatten: Sie waren vom Rand der felsigen Spalte gestürzt.

Jiroh trat einen Schritt zurück. Die Kante des Abgrunds war moosbewachsen und glitschig und er hatte wenig Lust, Bekanntschaft mit dem fauligen See zu machen.    Ein leises Zischen lenkte ihn plötzlich ab. Jiroh drehte den Kopf der Felswand zu, die seitlich der Lichtung über den Abgrund thronte und fand sich Auge in Auge mit einer riesigen, schwarz glänzenden Wildkatze wieder. Das leise Zischen wandelte sich zu einem kehligen Fauchen, als das Tier ihn mit gelb leuchtenden Augen fixierte und zum Sprung ansetzte. Jiroh erstarrte. Fühlten sich so die letzten Momente im Leben eines Menschen an? Keine Abfolge von Bildern, die an einem vorbeizog? Keine wilden  Fluchtgedanken im Angesicht einer tödlichen Bestie? Jiroh ballte die Fäuste und tat das einzige, das ihm in den Sinn kam. Er schrie die Katze an und lief ihr mit drohend ausgestreckten Armen entgegen.

Das Biest reagierte unbeeindruckt und beantwortete Jirohs Angriff mit einem Fletschen seiner Zähne, ehe es eine geschmeidige Bewegung vollzog und auf Jiroh zu sprang. Doch es war nicht die Katze, die Jiroh von den Füßen riss. Menschliche Hände zogen den Jungen zu Boden und ein Körper rollte sich mit ihm über das weiche Gras der Lichtung. Die Raubkatze war ins Leere gesprungen und wirbelte wütend herum. Sie fixierte erneut ihre Beute, die sich mit einem Mal verdoppelt hatte. Der Späher war bereits wieder auf den Beinen und riss Jiroh gewaltsam am Kragen hoch.

„Lauf.“ Seine Stimme war unerwartet ruhig. Jirohs Blick wechselte von der Katze zu seinem Retter und wieder zurück. Wohin sollte er laufen? Der Fels war ein geradezu lächerlicher Zufluchtsort, wenn man vor einer Wildkatze Schutz suchte und zwischen ihnen und dem Dickicht wartete das schwarze Biest darauf, seine Zähne in ihr Fleisch zu schlagen. Ehe Jiroh eine Entscheidung treffen konnte hatte die Katze ihre muskulösen Beine in Bewegung gesetzt und sprang auf die beiden zu. Der Späher packte Jiroh erneut an der Schulter und stieß ihn mit kräftigen Armen in Richtung des Abgrundes. Der Junge bemerkte einen Strauch, der unterhalb der Kante wuchs, und glitt über den rutschigen Felsen nach unten, wo seine Hände Halt an den kräftigen Ästen fanden, während seine Beine in der Luft baumelten. Seine vor Furcht geweiteten Augen nahmen die Bewegungen des Spähers wahr, der in einem Satz auf die Felswand sprang und sich im selben Moment davon abstieß, als ihn die Katze fast erreicht hatte. In einer schier unglaublichen Bewegung drehte sich der Mann in der Luft und wich dem ins Leere schnappende Maul des Tieres aus, während er gleichzeitig ein großes Messer in den Rücken der Bestie rammte.

Ein markerschütternder Schrei durchschnitt den Wald und scheuchte zahlreiche Vögel in die Luft. Die Katze, nun rasend vor Wut und Schmerz,  drehte sich dem wendigen Mann zu und brüllte ihn mit geiferndem Maul  an, während sie erneut zum Sprung ansetzte. Der Späher drehte sich um und lief auf den Abgrund zu. Die Wildkatze sah ihre Chance und stürzte ihm mit großen Schritten hinterher. Ihre riesigen Krallen  fanden sein Lederhemd im selben Moment, als er über die Kante sprang und versuchte, eine in der Luft hängende Liane zu ergreifen.  Die Katze, blind vor Schmerz, stürzte ohne Rücksicht auf die Schlucht hinterher. Seine Hände fanden die Schlingpflanze und er hielt sich mit aller Kraft daran fest, während das Gewicht der Katze, ihre Krallen tief in seinen Rücken versunken, ihn nach unten zog und einen tiefen Schnitt in sein Fleisch riss. In einer geistesgegenwärtigen Bewegung schwang er seine Beine nach oben und  hakte sie in der Liane ein, sodass sich die gebogene Kralle endlich aus seinem Fleisch löste und die Bestie haltlos in die Tiefe stürzte, wo sie mit einem lauten Klatschen im schwarzen Wasser verschwand.

Jiroh beobachtete den Fall und die verzweifelten Versuche der Katze, sich auf den glatten Felsen hochzuziehen, die das tiefe Wasser begrenzten. Doch ihre Verletzung war schwer und ihre Versuche verloren zunehmend an Kraft, bis sie sich schließlich nicht mehr an der Oberfläche halten konnte und im dunklen Wasser verschwand.  Seine Augen verfolgten die letzten Luftbläschen auf dem Wasser, ehe er seinen Blick hob und den schwer verletzten Späher beobachtete, der die Liane langsam entlang kletterte, um dem tödlichen Abgrund zu entkommen. Jiroh versuchte sich ebenfalls hochzuziehen, aber seine Beine fanden auf dem Fels keinen Halt und zu seinem Entsetzen spürte er seine Hände schwächer werden, die sich bisher eisern um die Äste des Strauches geschlossen hatten. Er wagte es nicht, eine Hand zu lösen, um weiter oben Halt zu suchen. Wenn der Fremde es nicht schaffte sich auf die Lichtung zu retten, wäre auch Jiroh verloren. Er blickte verzweifelt nach unten, wo der Abgrund vor seinen Augen verschwamm und die Welt sich zu drehen begann. Panik stieg in ihm auf. Gerade als seine Finger sich gegen seinen Willen öffneten, spürte er eine Hand, die sich um seinen Arm schloss.

„Da bist du ja! Verdammt, ich hatte Todesangst!“ Aran zog ihn mit all seiner Kraft nach oben und zerrte ihn über die mit schleimigen Algen überwachsene Kante des Abgrunds. „Ich dachte die Katze hätte dich gefressen! Der Kampf klang als hätte sie dir die Haut bei lebendigem Leib abgezogen. Wie hast du das bloß überlebt, du sturer Dummkopf?!“ Jiroh lag schwer atmend auf dem Rücken und betrachtete seine abgeschürften, zitternden Hände.

„Der Fremde… er hat die Katze getötet.“ Die Welt war mit einem Mal wieder klar vor Jirohs Augen. Wo war der Späher? Er rollte zur Seite und sah sich um. Eine bleiche Hand lag am Rand der Schlucht auf der gegenüberliegenden Seite der Lichtung und es dauerte einen Moment, ehe Jiroh realisierte, dass der Körper des Mannes unterhalb des Felsvorsprunges hängen musste. Jiroh sprang auf und rannte über das weiche Gras. Die Hand des Mannes hatte ein Büschel Gras umschlossen, das seinen Absturz verzögerte. Die beiden Jungen packten den Arm des Fremden und zogen ihn gemeinsam auf die Lichtung. Aran wich mit einem Aufschrei zurück. Der Rücken des Fremden lag in Fetzen und  das  Blut lief in Strömen über seine Beine. Der Späher blickte Jiroh mit müden Augen an, die sich erschöpft schlossen, als er auf dem weichen Gras lag.

Jiroh und Aran wechselten hilflose Blicke.

„Wir müssen ihn ins Dorf bringen!“ Jiroh griff unter die Arme des Mannes, um ihn hochzuziehen.

„Darf man ihn überhaupt bewegen? Sieh dir mal diese riesige Wunde an!“ Die Panik in Arans Stimme verunsicherte Jiroh. Wenn sie ihn hier liegen ließen um Hilfe zu holen, wäre er ein leichtes Fressen für die zahlreichen anderen Raubtiere  des Nebelwaldes. Nicht alle Warnungen der Älteren waren an Jiroh ungehört vorbeigegangen.  Er schloss kurz die Augen und konzentrierte sich.  Wenige Meter entfernt lag das blutige Messer, das der Späher der Katze während seines todesmutigen Sprunges in den Rücken gerammt hatte. Sie hatte es offenbar abgeschüttelt.  Sein Blick wanderte zum Dickicht, das aus zahlreichen, glatten  nach oben strebenden Ästen bestand.

„Hol das Messer und zerschneide sein Lederhemd. Dann nimm meine und deine Jacken. Ich hole zwei starke Äste. Wir bauen eine Bahre und tragen ihn zurück ins Dorf.“

Mit zitternden Händen ging Aran ans Werk. Das Hemd des Mannes war jedoch nur noch ein grober Fetzen, den Aran vorsichtig unter seinem Körper hervorzog. Jiroh brachte zwei Äste, die stark, aber doch leicht genug waren, um als Bahre zu dienen. Die beiden Jungen banden die Äste mit ihren Jacken und dem Leder des Spähers zu einer notdürftigen Bahre zusammen. Vorsichtig hoben sie den Mann an und legten ihn mit dem Rücken nach oben auf die Tragefläche. Die Rückkehr ins Dorf gestaltete sich schwierig. Der unebene Boden des Waldes, die zahlreichen Bäume und Sträucher, die für zwei Jungen unter normalen Bedingungen keinerlei Hindernis darstellten, wurden mit ihrer Last zu fast unüberwindbaren Hürden. Schweißgebadet erreichten sie endlich den Waldrand und Jiroh rannte so schnell ihn seine Beine trugen zum nächstgelegenen Haus des Dorfes.  Wenige Minuten später befand sich der Verletzte bereits in der Obhut des Heilers und der Vorsitzende des Ältestenrates winkte die aufgelösten Jungen auf dem Dorfplatz zu sich. Seine Augen funkelten aufgebracht und die beiden senkten eingeschüchtert ihre Köpfe.

„Jiroh und Aran. Ihr habt gegen unseren Rat den Nebelwald betreten und euch damit in große Gefahr gebracht. Seid ihr euch dessen bewusst?“ Der alte Mann hob tadelnd seinen Zeigefinger. Die beiden Jungen blickten beschämt zu Boden.

„Ihr habt jedoch sehr mutig gehandelt und Moru zu uns zurück gebracht. Darum sei euch euer Fehler verziehen.“ Der Alte trat näher und tätschelte Arans Wange. Der Junge schreckte kurz zurück, begann dann jedoch zu lächeln.  Der Mann wandte sich ab, doch Jiroh hielt seine Hand fest.
„Moru ist ein Späher, nicht wahr? Was hat er im Wald gesucht?“  Jiroh hielt dem strengen Blick des Alten stand.

„Die Antwort auf diese Frage hast du am eigenen Leib erfahren. Unsere Jäger haben von einer Bestie berichtet, die das Wild im Nebelwald dezimiert.  Wir haben Moru geschickt, um dem Tier eine Falle zu stellen.“ Seine zusammengepressten Lippen warnten Jiroh, weitere Fragen zu stellen und er senkte respektvoll den Blick.  Die Züge des Mannes wurden jedoch weicher als er sagte: „Wir sind dir dankbar, dass du Moru zurück gebracht hast. Sein Auftrag ist erfüllt.“

Aran war zu seiner Familie zurückgekehrt und ließ Jiroh alleine am Marktplatz vor dem Haus des Heilers zurück. Er saß auf dem Rand des steinernen Brunnens und blickte verloren auf die verschlossene Tür des Hauses. Gelegentlich kam eine Gruppe von Frauen vorbei und warf ihm einen neugierigen Blick zu. Kurz vor Einbruch der Dunkelheit öffnete sich die Tür und der bärtige Heiler verließ das Haus. Jiroh nutzte den Moment und lief auf den Mann zu.

„Wie geht es Moru? Wird er wieder gesund?“ Sein besorgter Blick überraschte den alten Mann und er lächelte ihn freundlich an.

„Er wird es schaffen, mein Junge. Moru ist ein junger Mann und ein kräftiger Kerl obendrein.“ Der Heiler tätschelte kurz Jirohs Kopf und wandte sich ab.

„Er hat mich gerettet.“ Jiroh spürte Tränen in seinen Augen, als er dem Mann einige Schritte folgte. Der Heiler hielt inne und dreht sich um, eine Augenbraue hochgezogen.

„Dann solltest du dich wohl bei ihm bedanken, Junge. Komm wieder wenn er wach ist. Für heute hattet ihr alle genug Aufregung.“ Der alte Mann setzte seinen Weg fort und ließ Jiroh auf dem abendlichen Marktplatz zurück.

Jiroh betrat kurz darauf das Haus seiner Eltern, das er nun mit seiner Schwester teilte. Er legte sich auf sein Bett ohne ein weiteres Wort über sein überstandenes Abenteuer zu verlieren. Shaira schien noch nichts davon gehört zu haben, denn sie begrüßte ihn wie jeden Abend mit einem freundlichen Lächeln, das einem besorgten Stirnrunzeln wich, als er sein Abendmahl nicht anrührte. Doch wie so oft ließ sie ihn gewähren ohne Fragen zu stellen. Das schätzte Jiroh sehr an ihr. Seit dem Tod seiner Eltern hatte Shaira die Aufgaben ihrer Mutter übernommen und versorgte den gemeinsamen Haushalt. Jiroh fehlten ihre Eltern sehr, doch er schätzte sich glücklich, Shaira um sich zu haben. Seine Schwester sprach nicht viel seit sie auf sich alleine gestellt waren, aber Jiroh verstand sich mit ihr meist auch ohne vieler Worte. Gerade an diesem Abend hatte er ohnehin wenig Lust auf ein Gespräch. Er schlief in dieser Nacht wenig und stand vor Einbruch der Dämmerung wieder am Marktplatz, um vor der Tür des Heilers zu warten. Die Sonne stand hoch am Himmel, als die Tür sich öffnete und der alte Mann gähnend ins Freie trat. Er sah Jiroh, seufzte und winkte ihn zu sich.

„Er ist wach, Junge. Aber fasse dich kurz.“

Jiroh betrat den großen Raum in dem mehrere leere Betten standen. Am hinteren Ende des Raumes war ein Bett belegt und Jiroh ging bedächtig darauf zu. Der Mann, der ihm gestern mit schier übermenschlicher Kraft das Leben gerettet hatte, lag zusammengesunken auf dem Bauch. Die Bettdecke reichte bis zu seiner Hüfte. Der gesamte Rücken war bandagiert und der Verband schien  eben erst gewechselt worden zu sein. Moru, Jiroh erinnerte sich an den Namen, den ihm der Dorfälteste gestern genannt hatte, lag mit geschlossenen Augen auf dem flachen Kissen. Ein Arm hing außerhalb des niedrigen Bettes auf den kalten Steinboden, als wolle er sich damit abstützen.

Jiroh kniete sich nieder und setzte sich neben das Bett. Der Mann öffnete langsam die Augen. Überrascht zwinkerte er. Jiroh wollte ihn fragen, wie es ihm ging, aber in Anbetracht der Situation schien ihm dies äußerst unpassend.

„Danke für gestern.“ sagte er schließlich. Moru lächelte und versuchte zu antworten, aber der Versuch schien ihm Schmerzen zu bereiten und er schloss die Augen. Jiroh ergriff schnell seine Hand und drückte sie.

„Es tut mir leid, dass ich so unvorsichtig war. Ich habe dich im Wald gesehen und wollte mit dir sprechen. Plötzlich stand diese Bestie vor mir. Ich hatte keine Ahnung…“ Moru drückte Jirohs Hand und öffnete seine blauen Augen. Das rabenschwarze Haar klebte an seiner Stirn.

„Ich möchte auch einmal Späher werden.“  Jiroh standen Tränen in den Augen. Moru lächelte. Er hob seine Hand und tätschelte seinen Kopf. Jiroh hasste es, wenn Erwachsene dies taten. Er war nun schließlich fast selbst ein Mann.   Moru zuckte mit vor Schmerz zusammengezogenen Brauen zurück.

„Soll ich dir etwas bringen? Hast du Durst?“ Jiroh beobachtet die Bewegung von Morus Lippen. Er formte ein lautloses „Nein“ und schloss seine Augen wieder. Jiroh nahm wieder seine Hand und wartete, bis Moru eingeschlafen war, ehe er das Haus des Heilers verließ.

Jiroh hatte bemerkt, dass Moru nur wenige Jahre älter als er selbst sein konnte. Er kannte die von der Sonne gegerbten Gesichter der Erwachsenen, die sich mit zunehmendem Alter in Falten legten. Morus Gesicht war braungebrannt, doch jugendlich. Jiroh schätzte ihn auf ungefähr 20 Jahreszyklen.  

Sobald es ihm besser ging, würde er Moru fragen, wie er selbst zu einem Späher werden könne. Fremde Dörfer und weit entfernte Landstriche zu sehen, schien ihm so viel interessanter zu sein, als sein ganzes Leben als Getreidebauer, Jäger oder Handwerker zu verbringen.

Jiroh legte sich an diesem Abend mit einem Lächeln auf den Lippen schlafen und träumte von seinen späteren Reisen. Doch immer wieder kehrten seine Träume zurück zu Moru und der starken Hand, die er zärtlich in seiner gehalten hatte.  

© Copyright 2014, Jiroh Windwalker 

Alle Rechte vorbehalten. 

Saturday, April 5, 2014

Tattoo

Die nachfolgende Kurzgeschichte entstand beim Hören des spanischen ESC-Beitrags 
"Dancing in the Rain" von Ruth Lorenzo.





Jemand wie Sie sollte eigentlich gar nicht mit Kindern arbeiten dürfen. Von einem Grundschullehrer erwarte ich zumindest einen anständigen Lebenswandel, junger Mann.

Nick spürte noch die Schamesröte in seinem Gesicht. Was für ein schrecklicher Tag. Seine Schüler hatten das spontane Outing im Sachkundeunterricht eigentlich ganz gut aufgenommen. Die Eltern dagegen weniger…
Was war schon dabei? Früher oder später hätte jemand den Kindern  beibringen müssen, dass schwule Menschen nicht Gegenstand geschmackloser Witze werden dürfen. Die Vorbildfunktion eines Grundschullehrers war für diesen Lernprozess doch bestens geeignet. Immerhin wurde Nick von den Kindern respektiert – auch nach seinem Outing.

Dass es noch konservative Eltern gab, die das anders sahen, war nicht seine Schuld. Schwermütig erinnerte sich Nick an jedes unangenehme Detail seines Gesprächs mit dem Schuldirektor, der glücklicherweise seine Ansicht teilte und nichts Schlimmes an der Sache fand. Nach einem tiefen Luftzug schüttelte Nick den Kopf und versuchte seine Gedanken frei zu bekommen. Im Moment hatte er eigentlich andere Sorgen. Er fasste sich vorsichtig an den Knöchel und zuckte zusammen, als er immer noch denselben stechenden Schmerz spürte, der ihn nach seinem vermeintlich harmlosen Sturz zu einer kurzen Rast gezwungen hatte. Der warme Frühlingswind streichelte seine Haare, während er sich an einer Buche anlehnte und vorsichtig seinen Fuß belastete. Diese verdammte Baumwurzel. Wie immer zur falschen Zeit am falschen Ort…

Wenigstens konnte Nick das Rauschen eines Bergbachs hören, der sich nicht weit entfernt befand und Aussicht auf eine angenehme Kühlung für den geschwollenen Knöchel bot. Mehr hüpfend als gehend bewegte er sich langsam auf das Gewässer zu. Der Bergbach war bei näherem Hinsehen ein reißender Fluss, der sich durch das Gestein zog und im Laufe der Jahrhunderte eine tiefe Schneise geschnitten hatte, die nun von nacktem Fels umsäumt war. Zum Wasser zu gelangen versprach eine Herausforderung zu werden. Vorsichtig kniete Nick nieder, um auf Händen und Füßen den felsigen Abhang zum kühlenden Wasser zu überwinden. Ein plötzliches Rascheln gefolgt von schnellen Schritten in seiner Nähe ließ ihn erstarren, doch Nick konnte nicht schnell genug reagieren, ehe er von den Füßen gerissen wurde und mit einem zügig sprintenden Fremden zusammenstieß, mit dem er unsanft im Kiesbett des Baches landete.

„Hey! Pass doch auf, hier ist schließlich ein Abgrund. Du wärst direkt ins Wasser gelaufen!“ Nick rappelte sich umständlich auf und zischte laut, als sich der schmerzende Knöchel erneut meldete.

„Sorry, hab dich nicht gesehen.“ Der Sprinter war mit einem Satz wieder auf den Beinen und richtete seinen Rucksack, der ihm über die Schulter gerutscht war. Sein ärmelloses Shirt klebte an seinem verschwitzten Körper. Nicks Augen blieben an einem makellosen Ärmeltattoo hängen, das seinen linken Arm hochwanderte und an der Brust unter dem Shirt verschwand. Der Junge hatte sich die Stirn an einem Stein aufgeschlagen und blutete leicht, aber er schien es nicht zu bemerken.

„Was ist mit deinem Fuß?“, fragte er ernst. Nick musterte die symmetrischen Brauen des Mannes, die sich über den hellblauen Augen zusammenzogen und interessante Falten auf seiner Stirn hinterließen.

„Tut mir leid, dass ich dich umgerannt habe. Hast du dir weh getan?“ Er ergriff Nicks Arm und stützte ihn, damit er auf den rutschigen Kieseln nicht den Halt verlor.   Nick winkte ab und zog ein Taschentuch aus seiner Cargo-Hose. „Das mit dem Fuß warst nicht du. Ich bin vorhin gestolpert und hab mir den Knöchel verstaucht.“ Er reichte ihm das Taschentuch, aber der Junge starrte ihn fragend an.

„Deine Stirn. Sie blutet.“ Nick hob seine Hand, um das Tuch an die Wunde zu drücken, aber zu seiner Verwunderung zuckte der Läufer zurück und tippte sich an die Stirn. Er wandte sich ab und starrte gedankenverloren auf seine blutigen Fingerkuppen.

„Alles okay? Es sieht nicht besonders schlimm aus.“ Nick wandte seine Aufmerksamkeit wieder seinem Knöchel zu, der ihm mittlerweile jede Bewegung zur Hölle machte. Der Läufer sank auf die Knie und wusch sich den Kopf im kalten Wasser. Nick setzte sich zu ihm, zog vorsichtig seinen Schuh aus und hielt den geschwollenen Fuß in das kühle Wasser. Sein erleichtertes Seufzen zauberte ein amüsiertes Lächeln in das Gesicht des Mannes.

„Marco“, sagte er und reichte Nick die Hand. 

„Nick. Läufst du immer so stürmisch durch die Gegend hier?“ Er rieb vorsichtig seinen Fuß, der endlich aufgehört hatte zu schmerzen.

„Ich bin Crossläufer. Die Strecke hier kenne ich praktisch auswendig. Ich wollte hier durch den Fluss als ich in dich gerannt bin.“ Er nahm wieder eine Handvoll Wasser und benetzte sein Gesicht.

„Beeindruckend. Du durchschwimmst den Fluss trotz der starken Strömung? Ist das nicht gefährlich?“

„Doch.“ Marco lächelte wieder verschmitzt. Seine strahlenden Augen kosteten Nick ein paar Herzschläge, eher er seine Worte wiederfand.

„Ein ungewöhnliches Hobby“, stellte er fest. Marco erhob sich wieder.
Nicht nur. Ich bin Fitnesstrainer und organisiere manchmal Läufe mit Kunden, wenn ihnen das Gym zu eintönig wird.“ Nicks Blick fiel auf Marcos gestählte Muskeln und er nickte anerkennend.

„Das erklärt so einiges“, lachte er und freute sich über den Klaps auf seine Schulter, den Marco ihm mit gespielter Empörung gab.

„Kannst du überhaupt gehen?“, fragte er schließlich ernst. Nick stellte sich vorsichtig auf beide Beine und zuckte zusammen, als der bekannte Schmerz zurückkehrte. Marco runzelte wieder die Stirn und reichte ihm die Hand.

Wo musst du hin? Ich gehe mit dir. Ich nehme an deine Wandertour ist ohnehin zu Ende, oder?“

Wow. Was für ein Typ. Nick nahm die angebotene Hand und versank regelrecht in Marcos starken Armen, als er ihn bei der Schulter nahm und ihm aus dem Flussbett half. Der Weg durch den Wald zurück zum Parkplatz war länger als Nick angenommen hatte. Er konnte den verletzten Fuß kaum benutzen und hing schwer an Marcos Seite, der sein Gewicht ohne große Anstrengung trug. Das Spiel der kräftigen Muskeln unter der gebräunten Haut faszinierte Nick und fast wäre er mit Marco wieder auf dem Boden gelandet, doch der Athlet bemerkte den Stein noch bevor Nick darüber stolpern konnte.

Was machst du eigentlich, wenn du nicht verletzt durch den Wald stolperst?“, fragte Marco lachend, um das betretene Schweigen zu überbrücken, das zwischen ihnen entstanden war.  Nick verdrehte die Augen.

„Ich bin Grundschullehrer an einer Privatschule.“ Er suchte Marcos Augen um seine Reaktion zu sehen. Was mochte ein trainierter Fitnessstudio-Schönling von einem biederen Lehrer wie Nick halten?

Marcos Augen leuchteten jedoch überrascht auf. „Etwa an der St. George’s? Dort gebe ich Basketballunterricht für die Oberstufe als außerschulische Aktivität.“ Nick schmunzelte. Er  hatte die Szene bildlich vor Augen und konnte sich die Reaktion pubertierender Schüler auf einen hübschen Basketballtrainer wie Marco lebhaft vorstellen. Er schüttelte den Kopf.

„Nein, an der Munich International School.“ Marco war ein Mann voller Überraschungen, dachte Nick amüsiert. Nick verlor in einem unachtsamen Moment wieder den Boden unter den Füßen und riss Marco diesmal mit sich. Bei dem Versuch, wenigstens den verletzten Knöchel zu schützen, hielt er den Fuß hoch und bemerkte zu spät, dass er direkt in Marcos Schoß gelandet war. Marco lachte laut auf und griff mit starken Armen nach Nicks Taille, um ihm hoch zu helfen. Die beiden starrten einander eine gefühlte Ewigkeit an, ehe Nick verlegen lachte. Marco zwinkerte ihn an und ließ seine Hände eine Sekunde zu lange auf Nicks Bauch verharren, ehe er sich aufrappelte.

„Ich bin ein furchtbarer Flirt, sorry.“  Marco klopfte die Tannennadeln von seiner Jogginghose und zog Nicks Arm wieder über seine Schulter, um den Weg fortzusetzen.  Nick sah ihn mit leuchtenden Augen an.

„Das finde ich gar nicht.“ Marco war ein irrsinnig netter Kerl und obendrein vom selben Ufer, wie es schien. „Ich bin dir sehr dankbar, dass du mir hilfst.“ Nick wechselte lieber das Thema. Wenn jemand ein schlechter Flirt war, dann ohne Zweifel Nick. Sein Liebesleben war mit Ausnahme einiger weniger Schritte in aufregendes Neuland während der Pubertät eher als „kaum vorhanden“ zu beschreiben. Aber einen Mann wie ihn hätte er sich ohnehin niemals getraut anzusprechen. Marcos schiefes Lächeln verriet, dass er den Themenwechsel durchaus bemerkt hatte.

„Am besten fahre ich dich mit deinem Wagen ins Krankenhaus. Du solltest den Fuß checken lassen.“

Der Parkplatz am Waldrand bot schließlich ein recht einsames Bild. Nicks alter orangefarbener Ford stand alleine neben der Straße und strahlte das Flair der 1980er-Jahre aus, das Nick nicht wirklich mochte. Trotzdem hatte er sich nie einen neueren Wagen beschafft. Für die Fahrt zur Arbeit reichte er allemal aus. Marco schwang sich ans Steuer und fuhr den Wagen in einer engen Schleife auf die Straße hinaus. Sein Sportrucksack war auf dem Rücksitz gelandet und Nick betrachtete fasziniert Marcos Arme, die am Lenkrad ruhten.

„Gefallen Sie dir?“ Marco musste Nick nicht erst ansehen, um seine Augen auf sich zu spüren. Peinlich berührt, wandte er sich ab.

„Die Tattoos sind ein Wahnsinn. Wie lange hast du sie schon?“

„Zwei Jahre. Der Tattooladen neben meinem Studio ist ziemlich gut. Sie haben damals angeboten, mir welche zu stechen, wenn sie sie danach fotografieren und in der Auslage verwenden dürfen. Hat mich gar nichts gekostet.“ Marco suchte Rückspiegel und Armatur nach einer Sonnenbrille ab. Nick kam ihm zuvor und drückte ihm seine Brille aus dem Handschuhfach in die Hand.

„Dann bist du sogar Tattoomodel?“ Der Kerl wurde immer schräger, aber Nick stellte fest, dass ihm der Gedanke gefiel.

Ich war es, nur einmal. Mehr lasse ich nicht mehr machen. Ich find es immer schade, wenn Leute nicht wissen wann sie aufhören sollen und sich den ganzen Körper verunstalten.“ Er lächelte Nick zu.

„Und was hast du so für Geheimnisse? Bist du durch und durch ein braver Lehrer?“ Wieder dieses Zwinkern, das Nick warme Schauer über seinen Rücken laufen ließ.

„Mehr oder weniger, ja. Aber wenn du nach meinem ungewöhnlichsten Hobby fragst, ich mache gerne Höhlenwanderungen.“ Das schien Marcos Interesse zu wecken.

„Klingt ja mächtig interessant. Hast du da ein paar Favoriten, die du empfehlen würdest.“ Nick konnte sich gut vorstellen, dass ein Sportler wie Marco die langgezogenen Naturhöhlen bevorzugen würde, deren Begehung mehrere Tage dauerte. Zu Nicks Favoriten zählten diese jedoch nicht.

„Um ehrlich zu sein, am interessantesten fand ich immer die Erdställe. Die sind zwar nicht so groß und ausgedehnt, wie viele natürliche Höhlen, aber sie sind geheimnisvoll und fast in Vergessenheit geraten.“ Nick schmunzelte über Marcos fragenden Blick. Natürlich hatte er noch nie davon gehört.

„Erdställe sind von Menschen geschaffene Höhlen. Sie wurden im Mittelalter gebaut und dienten wahrscheinlich als Kammern für die Seelen der Verstorbenen, ehe sie ins Jenseits wanderten. Das war noch bevor das Christentum das Fegefeuer erfand. Genaues weiß man allerdings nicht, deshalb sind sie ja so geheimnisvoll.“ Nick freute sich über Marcos gespannte Aufmerksamkeit. Im Gegensatz zu seinen Schülern interessierte sich Marco tatsächlich für seinen „Unterricht“.

„Wow. Und so etwas gibt es hier bei uns?“

„Hunderte davon. Gerade hier in Bayern.“ Nick wollte Marco am liebsten einladen, einmal gemeinsam eine dieser Höhlen zu besuchen, aber es lag ihm fern sich aufzudrängen. Immerhin kannte er Marco erst seit einer knappen Stunde. Der Mann sah kurz zu Nick und lächelte ihn verlegen an. Er war nicht sicher, aber er glaubte, dass Marco denselben Gedanken hatte und ebenfalls beschloss, lieber den Mund zu halten.

Die Fahrt zur Unfallambulanz dauerte nicht lange und schneller als ihm lieb war, fand Nick sich auf einem sterilen Krankenhausbett wieder und wartete, dass ein Arzt die Röntgenaufnahme auswertete und mit ihm darüber sprach. Marco hatte sich in der Zwischenzeit einen Kaffee geholt und saß, in eine von Nicks Jacken gehüllt, die er im Auto liegen hatte, auf einem Stuhl neben seinem Bett. Nicks Herz schlug förmlich höher. Sein Retter war nicht nur freundlich genug, auf ihn zu warten und ihn anschließend nach Hause zu bringen, er setzte sich auch wie selbstverständlich neben ihn, als sei er ein besorgter Familienangehöriger. Nick musste sich eingestehen, dass er sich Hals über Kopf verliebte.  

„Danke nochmal.“

„Keine Ursache. Weißt du, ich war ein unglaublich schlechter Schüler. Ich freue mich wenn ich mich wenigstens jetzt einmal bei einem Lehrer einschleimen kann.“  Er tätschelte Nicks Arm zärtlich, zog aber seine Hand rasch wieder zurück und blickte verlegen zur Tür.

Der Arzt, der bald darauf auftauchte, hatte gute Nachrichten. Kein Bruch, kein Haarriss, sondern lediglich eine simple Verstauchung war der Grund für die Schwellung. Ein paar Tage Erholung und der Fuß würde wieder wie neu sein. Nick machte sich mit melancholischer Stimmung auf den Heimweg. Marco würde ihn bei seiner Wohnung absetzen und anschließend mit der U-Bahn nach Hause fahren. Er war nicht sicher, ob er ihn überhaupt wiedersehen würde. Marco sah in seiner braunen Jacke und der dunklen Sonnenbrille am Steuer aus wie ein Pilot. Seine gerade Nase und der leichte Bartschatten erinnerten Nick an eine Armbanduhren-Werbung, die er früher so gern betrachtet hatte, weil ihm das Fotomodell in Fliegerjacke gefiel.

Hier sind wir. Du kannst gleich hier parken.“ Nick deutete an den Randstein neben seiner Wohnhausanlage. Der Weg in den dritten Stock war dank Aufzug rasch überwunden und bald stand Nick Marco an seiner Türschwelle gegenüber. Das unvermeidliche Lebewohl hing schwer zwischen den beiden.

„Ich danke dir. Ich hoffe du gibst mir die Gelegenheit, mich einmal zu revanchieren?“ Nick suchte Marcos Augen, die seinem Blick auszuweichen schienen. Schließlich hob er den Kopf und Marco atmete traurig aus.

„Nick, du bist ein sehr lieber Kerl. Ich wünsche dir alles Glück der Welt, aber mit uns zwei, das wäre keine gute Idee.“
Der Schlag saß. Nick blickte nun ebenfalls traurig zu Boden. Wie konnte er auch erwarten, dass ein Mann wie Marco sich ernsthaft für einen Langweiler wie Nick interessieren würde. Besser gleich den Schlussstrich ziehen, als später noch größere Schmerzen zu erdulden.

„Ich verstehe.“ Nick versuchte sich weg zu drehen, damit Marco die Träne nicht sah, die sich auf seinen Wimpern formte, doch plötzlich ergriff Marco Nicks Arm und zog ihn zu sich. Die beiden versanken in einer innigen Umarmung und schwiegen. Nicks Träne rollte über seine Wange und benetze Marcos Ohr, der sein Gesicht an seiner Schulter vergraben hatte. Schließlich lösten sie sich voneinander und Marco drehte sich ohne ein weiteres Wort um und ging. Nick stand wie angewurzelt auf der Türschwelle und wartete, doch er kam nicht wieder.

Was für ein Tag.

***

Mit versteinertem Gesicht lief Marco die Straße entlang. Tränen rannen über seine Wangen, die er immer wieder mit der Handfläche abwischte, doch sie versiegten nicht. Nicks liebevoller Blick verfolgte ihn in seinen Gedanken und traf ihn wie ein Dolch mitten ins Herz. Er musste den stillen jungen Lehrer irgendwie loswerden. Die wuscheligen braunen Haare, die Lippen, die sein Gesicht bei jedem Lächeln in sanfte Falten legten. Der schlanke Körper in seinen Armen, als sie zusammen am Boden lagen. Marco schüttelte den Kopf. Es war einfach nicht möglich. Nick hatte sein ganzes Leben vor sich und brauchte jemanden auf den er sich verlassen konnte. Marco hatte nichts zu bieten. Ein paar Muskeln, vielleicht. Ein schönes Tattoo, wenn einem so etwas gefiel. Nur Äußerlichkeiten, ohne Tiefgang. Er wollte niemanden gefährden. Und am allerwenigsten Nick.

Bevor es ihm bewusst wurde, dass er von seinem Weg zur U-Bahn schon lange abgekommen war, fand er sich vor dem Eingang des M54 wieder. Er atmete tief durch. Nicks Geruch hing in seiner Nase und erinnerte ihn bei jedem Schritt an den jungen Mann, den er heute verletzt und enttäuscht zurückgelassen hatte. Gab es einen besseren Weg, auf andere Gedanken zu kommen als das hier?

Ohne weiter nachzudenken ging er hinein.

Wie üblich, war es eine surreale Szene. Marco drängte sich durch den dichten Nebel des Dampfbades und ignorierte die Hände, die über seine Brust, seinen Hintern und auch tiefer streichelten. Er suchte nach Leuten, die er kannte. Nicht namentlich natürlich, aber dafür umso intimer. Er war gewohnt, stets im Mittelpunkt zu stehen, wenn er solche Orte besuchte. Es machte vieles für ihn leichter, auch wenn es ihm nicht immer gefiel. Endlich tauchte ein bekanntes Gesicht im Halbdunkel auf. Marco nickte ihm fragend zu und der Mann lächelte ihn an. Er war nur wenige Jahre älter als Marco, vielleicht knapp über Dreißig. Sein Körper war schlank und drahtig, nicht muskulös und trainiert wie sein eigener. Gerade daran hatte er so oft Gefallen gefunden. Der Mann ging langsam auf die Knie und ließ dabei seine Zunge über Marcos Brust streichen, ehe seine Lippen ihr Ziel fanden. Doch Marco war heute nicht nach Spielen zumute. Er packte den Mann an der Schulter und drehte ihn zur Wand, ehe er ohne weitere Umschweife in ihn eindrang. Das Stöhnen der beiden Männer ging in den ekstatischen Geräuschen des Dampfbades unter. Die Hände, die über Marcos Körper streichelten, während er in seinen Gespielen eindrang, wurden zahlreicher und fordernder, als er schwer atmend seinem Höhepunkt näher kam. Mit einem unterdrückten Aufschrei kam er schließlich und verweilte noch ein paar Atemzüge lang in seinem Partner. Dann wandte er sich um, schlug die Hände weg und verließ das Dampfbad ohne sich umzublicken.

Unter der Dusche ließ Marco seinen Gefühlen schließlich freien Lauf. Er spürte die Tränen, die sich formten und unter dem Wasser sofort weggespült wurden. Egal wie oft er sich einseifte, er würde sich niemals wirklich sauber fühlen. Die Männer unter den anderen Duschen blickten ihn irritiert an. Er ertappte sich dabei, wie er leise schluchzend seine Hände über das Gesicht gelegt hatte und am ganzen Körper zitterte. Bestimmt dachten sie er habe irgendetwas eingenommen. Sollten sie doch. Marco drehte das Wasser ab, trocknete sich und ging zur Umkleidekabine, wo er erneut an den Mann erinnert wurde, den er so verzweifelt versuchte zu vergessen.

Die Jacke! Er hatte Nick seine Jacke nicht zurückgegeben. Scheiße! Soviel zum Thema Abstand nehmen. Jetzt musste er Nick wiedersehen. Vielleicht konnte er sie ihm ja an die Tür hängen, während Nick in der Arbeit war. Er würde schon einen Weg finden. Hastig warf er sich in seine verschwitzten Joggingklamotten und zog die Jacke über. Er senkte seine Augen und ignorierte die gewohnten Blicke, als er durch die Lobby ging. Draußen atmete er die kühle Abendluft tief ein und machte sich auf den Weg zur U-Bahn. Wieder spürte er etwas Nasses in seinem Gesicht und fasste sich erschrocken an die Wange. Doch es waren nur Tränen, die sich immer noch  ihren Weg suchten.

Was für ein Tag.

***

„Silke liest gerne, aber Jonas liest noch viel gerner.“ Nick schlug im Geiste die Hände über dem Kopf zusammen.

„LIEBER, es heißt ‚lieber‘, Pavel. Du kannst ‚gerne‘ nicht steigern.“ Der Junge machte Nick wirklich das Leben schwer. Als Sohn eines russischen Diplomaten sprach er zuhause nie Deutsch und zeigte daher besonders im Deutschunterricht große Schwächen. Sich Deutsch anzueignen war definitiv schwieriger als Englisch. Nick ließ die Stunde mit einer Schreibübung ausklingen und war überrascht, als nicht alle Schüler beim Pausenläuten sofort aus der Klasse stürmten. Anna und ihr bester Freund  – und Streichkumpane – Marlon blieben sitzen und starrten Nick an.

„Was ist los? Keine Lust auf Pause?“ Er sortierte die Hefte auf seinem Tisch nach Namen und sah hoch, als Anna nicht antwortete. Dem Mädchen schien etwas auf den Lippen zu brennen.

„Ich habe mitbekommen, dass meine Mutter sich über sie beschwert hat“, platzte es schließlich aus ihr heraus, „Und ich wollte nur, dass Sie wissen, dass ich ihr gesagt habe, dass Sie ganz okay sind.“

„Außerdem finden wir Lady Gaga auch toll“, warf Marlon ein. Nick konnte sich ein herzhaftes Lachen nicht verkneifen.

„Wie kommt ihr darauf, dass mir Lady Gaga gefällt?“

Anna und Marlon sahen ihn entgeistert an. „Mein Papa sagt, alle Schwulen lieben Lady Gaga“, stellte das Mädchen schließlich fest.

„Und warum auch nicht. Sie ist doch super!“, fügte Marlon hinzu.

„Das ist zwar sehr schmeichelhaft von euch, aber es hilft euch nicht, wenn ihr euch bei mir einschmeichelt. Die schriftliche Prüfung am Freitag zählt. Und besonders du solltest dir das zu Herzen nehmen, Anna.“ Das Mädchen zählte nicht gerade zu den motiviertesten Schülern.

Enttäuscht nahmen die beiden ihre Taschen und verließen schmollend den Raum. Im selben Moment steckte Nicks Kollegin Jessica ihren Kopf durch die Tür.

„Nick, an der Rezeption möchte jemand was für dich abgegeben.“ Er hob überrascht den Kopf.

„Hey Jess, danke. Wer denn?“

„Keine Ahnung. Fescher Typ, sah aus wie ein Sportlehrer.“ Nick ließ die Hefte erschrocken fallen.

„Ist er noch da?“ Jessica lächelte ihn schelmisch an. War er so leicht durchschaubar?

„Ja, er hat mich gebeten, dich zu fragen, ob du kurz Zeit für ihn hast. Und ich sage dir, wenn du keine Zeit hast, werde ich sie mir nehmen. Der Typ ist heiß!“ Das letzte Wort formte sie tonlos mit ihren Lippen.

Nick rannte die zwei Stockwerke hinunter. Louis, der Rezeptionist, deutete auf einen Mann, der außerhalb der verglasten Eingangstür stand und wartete. Marco!

Er wollte sofort zu ihm zu laufen, doch er besann sich und ging bedächtig nach draußen.

„Hey, Marco. Ich freue mich dich wiederzusehen!“ Nick erschrak, als er Marcos rote Augen sah. Hatte er etwa geweint? Marco blinzelte kurz und brachte seine Zähne mit einem strahlenden Lächeln zum Vorschein.
Hallo Nick. Entschuldige, dass ich dich störe, aber ich hab letztens deine Jacke mitgehen lassen.“ Er überreichte ihm das gefaltete Kleidungsstück wie ein Geschenk.

„Danke. Ich habe übrigens viel über das nachgedacht was du gesagt hast.“ Nick verfiel in ein Flüstern. „Wenn ich nicht dein Typ bin, dann versteh ich das, aber falls es nicht das ist, dann möchte ich, dass du weißt, dass ich dich sehr gern mag.“ Er hoffte, dass Marco ihn nicht auslachte und ihn für völlig kindisch hielt. Doch Marco starrte ihn nur traurig an. Seine geröteten Augen glänzten.

„Glaub mir, ich mag dich auch sehr gern, aber ich bin nicht so gut geeignet für so etwas.“ Marco flüsterte nun ebenfalls. Nick starrte ihn unsicher an. Er hatte keine Ahnung was er damit sagen wollte.

„Geeignet wofür? Bist du schon vergeben?“ fragte er vorsichtig. Marco lachte und blickte nach oben. Ganz offensichtlich war ihm diese Situation mehr als unangenehm. Nick amüsierte sich darüber insgeheim. Mit jeder Unsicherheit, die Marco zeigte, wuchs er ihm mehr ans Herz. Endlich fand er seine Worte wieder und schüttelte mit gesenktem Blick den Kopf.

„Nein, bin ich nicht. Nick, du möchtest doch nichts Oberflächliches. Ich sehe dir an, dass du ein Romantiker bist und dir in deiner Fantasie Dinge ausmalst, bei denen ich leider nicht mithalten kann. Für mich gibt es nur die Realität – und die ist eher grau und ernüchternd.“    Nick vergaß die Welt um sich herum und zog Marco in eine enge Umarmung.

„Es tut mir leid, dass du so denkst. Aber gibst du mir trotzdem die Möglichkeit, dich besser kennenzulernen?“, flüsterte er in sein Ohr. Marcos Augen suchten seinen Blick und er nickte lächelnd.

„Treffen wir uns nach der Arbeit vielleicht?“ Nick hatte es satt um den heißen Brei herumzureden. Offenbar musste er hier selbst die Zügel in die Hand nehmen.

„Ja gern, ich arbeite aber bis 19 Uhr im Sally’s Gym. Wenn du magst, kannst du dorthin kommen und wir gehen dann zusammen aus.“ Nick blickte auf die Uhr. Es war erst 13 Uhr.

„Ein Date im Fitnessstudio? Warum nicht, ich werde da sein.“ Nick drückte seine Hand und ließ ihn los. Er dankte ihm mit einem kurzen Nicken für die Jacke und kehrte zurück ins Schulgebäude. Marco sah ihm durch die Glasfront lange nach, ehe er sich umdrehte und ging.

Nicks Herz raste. Er würde seine Schüler an diesem Nachmittag sehr glücklich machen - denn er war verliebt.

***

„Hey Marco! Frau Müller ist für ihren 6 Uhr-Termin hier“, säuselte Annette und richtete ihren blonden Sportpony im Spiegel hinter der Theke des Studios. „Ich wünsche dir viel Spaß“, kicherte sie ironisch.

Ihre Augen drückten das Mitleid aus, das sie nicht in Worte fassen wollte. Marco hatte sich schon damit abgefunden, wieder eine Stunde voller Anspielungen unterhalb der Gürtellinie zu ertragen. Man konnte meinen, die Frau wäre nicht wegen des Kardiotrainings hier, sondern suchte schlicht nach gut gebauten Gigolos.  Leider war Marco offenbar genau in ihrem Beuteschema, weshalb sie ihre Termine immer in seine Schicht verlegte.

Er drehte sich um und sah seine Lieblingskundin zielstrebig auf ihn zusteuern. Ihr nüchterner Kurzhaarschnitt passte überhaupt nicht zu ihrem pausbäckigen Gesicht und den fülligen Kurven, die sie in eine hautenge Gymnastikhose gezwängt hatte.

„Mein lieber Marco, du siehst heute wieder blendend aus! Ein wahres Highlight des Tages“, sang sie förmlich, während sie ihren Arm um seine Hüfte legte.

„Frau Müller, es ist eine Freude zu sehen, mit welchem Eifer sie an Ihren Trainingsplan herangehen. Womit möchten Sie beginnen?“ Sie lachte laut auf.

„Etwas wo ich unten und du oben bist, wäre mir am liebsten.“ Annette konnte ihren Eiweißshake kaum im Mund behalten, als sie prustend loslachte. Marco warf ihr einen tadelnden Blick zu.

„Training an der Langhantel steht vorerst noch nicht am Programm“ antwortete er gutmütig. Frau Müller redete noch weiter auf ihn ein, doch seine Aufmerksamkeit wanderte zu einem jungen Mann am Laufband. Seine braunen halblangen Haare und die schlanken langen Beine erinnerten ihn an jemanden.

„Marco!“ rief Annette quer durch den Raum, „Hier ist noch jemand für dich.“

Er drehte sich um und sah Nick, der ihm fröhlich zuwinkte. Er war zu früh. Marco ließ seine Kundin links liegen und lief zurück zur Theke.  

„Nick, ich freue mich dich zu sehen“ Er umarmte ihn kurz.

„Ich mich ebenso. Du siehst toll aus in dem Outfit“, lachte Nick. Annette blies empört eine lose Strähne aus ihrem Gesicht. „Sag ihm das nicht. Er ist so schon eingebildet genug. Nicht wahr, schöner Mann.“

„Ach, halt die Schnauze.“

„Miststück!“ entgegnete Annette auffordernd, ehe sie kurz umarmte und darauf wartete, vorgestellt zu werden. „Das ist Annette, die gute Seele des Hauses.“

„Er meint, seine Fag-Hag“,  stellte sie klar. „Und wer bist du, wenn ich fragen darf?“

Ich bin Nick. Marco und ich haben uns bei einem Wanderunfall am Wochenende kennengelernt.“ Nick reichte Annette höflich die Hand, doch sie zog ihn in eine kurze Umarmung, was hier die übliche Form der Begrüßung zu sein schien.

„Nick ist Lehrer an einer internationalen Privatschule“, fügte Marco beiläufig hinzu. Annette pfiff anerkennend.

„Ein Akademiker. Wow, Marco, du machst die Träumer meiner Mutter wahr. Ich habe leider nie selbst einen abbekommen“, lachte sie. Nick sah Marcos Gesicht leicht erröten und lächelte höflich. Dem armen Kerl blieb nichts erspart wie es schien. Er hoffte, dass dies nicht der Grund für Marcos Zögern war, mit ihm auszugehen.

„Ich muss noch kurz meine Kundin fertigmachen, dann bin ich sofort bei dir.“ Er zwinkerte Nick zu und ging zurück zu Frau Müller.

„Oder sie ihn“, fügte Annette hinzu und reichte Nick einen Proteinshake als Erfrischung. „Ich freue mich, dass er wieder mal etwas rauskommt. Ich hoffe du bist nachsichtig mit ihm.“

Nick hob überrascht die Augenbrauen. „Wieso denn nachsichtig?“

„Naja, für ihn ist es nicht einfach.“ Annettes Augen weiteten sich kurz vor Schreck, als sie bemerkte, dass Nick keine Ahnung hatte, wovon sie sprach. „Sorry, ich rede und rede die ganze Zeit. Im Grunde geht es mich ja nichts an.“ Ein hereinkommender Kunde lenkte Annette ab. Nick dachte über die Andeutung nach, konnte sich aber keinen Reim daraus machen. Zumindest versprach das Date bereits jetzt interessant zu werden.

Marco war um Punkt sieben Uhr geduscht und angezogen. Nick hatte ein nettes italienisches Restaurant ausgesucht, wo sie den Abend mit entspanntem Smalltalk verbrachten. Nick erfuhr, dass Marco als Jugendlicher die Schule abgebrochen hatte und seither als Fitnesstrainer arbeitete, während Annette ihn ermutigte einen Schulabschluss nachzuholen, um sich ein Leben abseits des kleinen Gyms aufbauen zu können. Seine Eltern hatten ihn nach seinem Coming out nicht unterstützt, weshalb er seit vielen Jahren auf sich allein gestellt lebte und seinen angeborenen Bewegungsdrang entweder mit Hanteln im Studio oder beim Laufen über Berge und gelegentlich auch beim Wildwasserschwimmen auslebte. Von Bungee-Jumping über Fallschirmspringen schien Marco keine Gelegenheit auszulassen, an seine körperlichen Grenzen zu gehen. Nick dagegen präsentierte seinen eher nüchternen, um nicht zu sagen biederen, Lebenslauf. Marco folgte seinen Worten jedoch mit Begeisterung. Er erzählte von seiner Schulzeit mit Bestnoten, jedoch wenigen Freunden, seiner Zeit an der Universität, seinem Auslandssemester in Irland und schließlich seiner Anstellung an der Munich International School, wo er seit zwei Jahren Deutsch- und Gesamtunterricht für hauptsächlich englischsprachige Kinder von Mitarbeitern internationaler Organisationen gab.

Nach dem Essen wollten sie noch zu einem bekannten Nachtclub gehen, aber auf dem Weg dorthin blieben sie bei einer Parkbank hängen, die einen unvergleichbar schönen Ausblick auf den Vollmond bot, der am Himmel stand und den aufziehenden Wolken trotzte. Nick sah Marcos Augen im Mondlicht glitzern und nahm still seine Hand. Einer plötzlichen Eingebung folgend, lehnte er sich langsam zu ihm und drückte ihm einen sanften Kuss auf die Wange.

„Ich habe noch nie so einen interessanten Menschen wie dich getroffen.“, sagte er und Marcos Augen wandten sich ihm zu. Er streichelte mit seinem Daumen über Nicks Handrücken. Mit einer schnellen Bewegung wischte er sich über das Gesicht und Nick erkannte, dass es Tränen waren, die in seinen schönen Augen glänzten.

„Weinst du?“ Nick versetzte ihm einen aufmunternden Stoß mit der Schulter. Marco lachte schniefend.

„Tut mir leid. Ich habe mir nur gerade vorgestellt, wie schön es wäre, wenn wir zwei… Aber ich sollte dir nichts vormachen. Es war ein Fehler.“

Wieder diese Ablehnung und wieder richtete Marco seinen Blick beschämt zu Boden. Aber nochmal ließ Nick sich nicht abspeisen. Er kniete sich vor Marco hin und schüttelte seine Schulter.

„Verdammt nochmal, sag mir was los ist. Ich finde dich wundervoll, du bist der liebenswerteste Mensch, den ich je getroffen habe. Und wenn du mich auch anziehend findest, was sollte dann zwischen uns stehen?“ Marco bedeckte das Gesicht mit seinen Händen. Er drückte Nicks Arme von sich und stand angespannt auf. Es schmerzte Nick, ständig Tränen in Marcos blauen Augen zu sehen.

„Du stellst es dir so einfach vor! Du magst mich, ich mag dich und schon ist alles perfekt. Aber das ist es nicht!“ Marco begann wütend davon zu stapfen, doch Nick überholte ihn und stellte ihn zur Rede.

„Und wieso nicht? Was ist in deinem Leben so schlimm, dass du dich nicht einfach fallen lassen und einen Neubeginn wagen kannst?“, rief er aufgebracht. Marco zitterte am ganzen Körper.

„Es gibt für mich keinen Neubeginn, Nick. Ich bin HIV positiv. Du möchtest einen Freund, eine Beziehung und Sicherheit. Mein Liebesleben besteht dagegen aus anonymen Begegnungen mit anderen Positiven in Darkrooms. Ich möchte niemanden in Gefahr bringen.“ Er sank tränenüberströmt auf die Knie. Nick fing ihn in einer sanften Umarmung und drückte ihn an sich. Sein Schluchzen zerriss ihm das Herz. Erschüttert blickte er in die Dunkelheit. Ein älteres Ehepaar ging an den beiden Männern vorbei und starrte sie irritiert an. Marco und Nick saßen am Rand des Weges und hatten ihre Gesichter in der Schulter des anderen vergraben.

„Ich… ich hatte keine Ahnung, es tut mir leid“, sagte Nick schließlich mit belegter Stimme. „Wie lange weißt du es schon?“

Marcos Schluchzen hatte nachgelassen. Er wischte sich mit dem Ärmel über das Gesicht, vermied jedoch Nicks Blick. „Ein paar Jahre. Ich habe dem Falschen vertraut und stand anschließend alleine da.“

„Nimmst du die Medikamente?“

„Ja, seit einigen Monaten, aber es geht mir noch echt dreckig damit. Mein Arzt meint, es dauert bis man sich dran gewöhnt.“ Marco war gebrochen. Von dem trainierten Fitnessstudioschönling war nicht viel übrig geblieben, während er mit tränenüberströmtem Gesicht im Mondlicht saß. Er sah um Jahre gealtert aus und hatte tiefe Furchen im Gesicht, die Nick bei Tag noch nicht aufgefallen waren.

„Möchtest du nach Hause?“ Es machte nicht viel Sinn weiter am Straßenrand sitzen zu bleiben. Marco stand auf und klopfte den Staub von seiner Jeans.

„Es tut mir leid, dass ich dir den Abend verdorben habe“, sagte er leise. Nick legte seine Hand auf Marcos Schulter und hob sein Kinn, damit er ihm in die Augen sehen musste.

„Ich danke dir, dass du ehrlich zu mir bist. Aber ich kann dir versichern, dass das nichts an meinen Gefühlen für dich ändert. Es ist nur eine Infektion. Ich würde dich schließlich auch nicht abweisen, wenn du Diabetes… oder nur einen Arm hättest.“ Marco lachte leise auf und befreite sein Kinn aus Nicks Griff.

„Ich könnte dich niemals in Gefahr bringen…“ Nick drückte seine Lippen auf Marcos Mund und brachte ihn zum Schweigen. Der Kuss war süß und zärtlich. Nick schmeckte die salzigen Tränen auf Marcos Haut und vergrub seine Hand in den Haaren seines Freundes, während die beiden einander gierig erforschten. Als sie sich schließlich aus der innigen Umarmung lösten, streichelte Nick Marcos Rücken sanft und rieb seine Nase an den rauen Bartstoppeln, während er ihm leise ins Ohr flüsterte.

„Für manche Dinge gibt es Kondome.“  Marcos kräftiger Körper zitterte in seinen Armen. Plötzlich packte er Nick und hob ihn lachend in die Luft. Er nahm ihn bei der Hand und begann durch die Nacht zu laufen. Das Mondlicht war hinter dichten Wolken verschwunden und ein leichter Nieselregen ging über dem Park nieder. Nick spürte die kühle Nässe auf seiner Haut und war erleichtert, dass es diesmal keine Tränen waren. Marco lief in die Mitte der Wiese und blieb abrupt stehen. Nick rannte förmlich in ihn und fand sich in einer Umarmung wieder, die ihn an einen klassischen Tanz erinnerte. Tatsächlich begann Marco sich mit ihm rhythmisch im Kreis zu bewegen und sang leise ein Lied, während der Regen stärker wurde und ihre Kleider an ihren Körpern klebten. Nick gab sich dem Moment hin und ließ sich von Marcos Armen führen. Als das Lied zu Ende ging, fanden sich ihre Lippen wieder zu einem Kuss und sie standen regungslos zusammen im strömenden Regen.

„Zeit nach Hause zu gehen“, lachte Marco.

„Zu dir oder zu mir?“ erwiderte Nick zwinkernd.

„Meine Wohnung ist näher.“ Marco begann  wieder zu laufen und zog Nick mit sich.

Die U-Bahnstation befand sich direkt am Rande des Parks. Durchnässt und erschöpft standen sie am Bahnsteig und lachten über ihr unmögliches Aussehen. Nick hielt Marcos Hand und blickte ihm verliebt in die Augen. Zu spät bemerkten die beiden die drei Jugendlichen, die sich ihnen näherten.

„Hey. Habt ihr mal ein paar Euro?“

Marco drehte sich um und erkannte eine Klinge, die auf ihn gerichtet war.

„Ich würde das sein lassen, Junge. Für sowas gibt’s Gefängnis. Von mir aus verschwinde und ich hab nichts gesehen“, knurrte er.

„Gib mir deine Brieftasche und wir sind sofort weg“, erwiderte der Junge lächelnd.

Marcos Reaktion war schneller als der Junge erwartet hatte. Ein Kinnhaken streckte ihn zu Boden und das Messer fiel klirrend auf die Bahngeleise. Ein weiterer Junge stürzte sich auf Marco und rammte ihm die Faust in die Seite. Ein relativ harmloser Schlag, doch Marco sank gekrümmt zu Boden. Er hatte das zweite Messer nicht gesehen, dass sich in der Hand des Angreifers befand. Die blutige Klinge zitterte, als der Junge das Messer jetzt auf Nick richtete.

„Die…Brieftasche“, wiederholte der erste. Marco bemerkte mit Entsetzen, wie der Junge mit der blutigen Klinge auf Nick zuging.

„Gib sie ihm!“, stöhnte er und warf dem Jungen auch sein eigenes Portemonnaie hin. „Lass bitte meinen Freund in Ruhe.“

Nick warf seine Brieftasche auf den Boden. Der Junge rieb sich das schmerzende Kinn und sammelte beide Portemonnaies ein.

„Scheiß Schwuchteln. Los, weg.“ Die drei Jugendlichen rannten davon und ließen Marco am Boden liegen. Nicks Knie wurden weich. Warum stand Marco nicht wieder auf? Eine sich langsam vergrößernde Blutlache trat unter seinem Rücken hervor.

„Nick…“ Marcos Gesicht war kreidebleich. Nick kniete sich zu ihm, doch Marco hielt ihn auf Armlänge zurück. „Pass auf, ich blute.“

„Das ist doch egal. Du bist verletzt! Kannst du aufstehen?“ Er stand unter Schock, doch auch Nick war nicht Herr seiner Sinne. Was sollte er jetzt machen? Er hatte kein Telefon bei sich. Gab es hier am Bahnsteig Hilfe? Marco versuchte sich zu bewegen, sank jedoch mit schmerzverzerrtem Gesicht auf den kalten Fliesenboden zurück. Es war niemand am Bahnsteig zu sehen.

„Ich muss Hilfe holen“, stammelte Nick. Marcos Hand ergriff Nicks durchnässtes Hemd und hielt ihn zurück.
„Lass mich nicht allein…  lass mich nicht allein...“ Die Blutlache wurde immer größer und Marcos leuchtende blaue Augen verloren ihren Glanz, als sein Blick durch Nick hindurch glitt und leer wurde.

„Marco….“ Nick begann zu schluchzen und klagend zu weinen. Er schrie um Hilfe, doch niemand kam. Er wiegte Marcos kraftlosen Körper in seinen Armen und presste ein Stück Stoff auf die Stichwunde, die nicht aufhörte zu bluten.

Nick wusste später nicht, wie lange es dauerte, bis Hilfe kam. Die U-Bahnstation war nicht bemannt, doch die Zentrale hatte den Vorfall dank Videoüberwachung bemerkt und einen Rettungswagen geschickt. Der Notarzt hatte nur noch den Tod feststellen können und Nick nach Hause geschickt. Er erinnerte sich an wenig. Irgendwann schlief er ein und erwachte spät nachts aus schrecklichen Alpträumen, die im Schein der Lampe noch unheimlicher wurden, als er das getrocknete Blut auf seinen Händen sah. Er stürzte ins Bad, übergab sich und wollte das Blut abwaschen, aber er zögerte. War es nicht das einzige, das ihm von Marco blieb?

Die Tage vergingen. Er hatte sich krank gemeldet und verbrachte die meiste Zeit im Bett. Einmal ging er zu Sally’s Gym und erfuhr von Annette, dass Marcos Eltern ihn im Familiengrab beisetzen ließen. Er verabredete sich mit ihr am darauffolgenden Wochenende und sie besuchten Marcos Grab gemeinsam. Schweigend standen sie nebeneinander. Sie hatten beide keine Tränen mehr übrig. Eine seltsame Leere machte sich in Nick breit, als er eine rote Rose auf das Grab legte. Er hatte die Liebe seines Lebens verloren, noch bevor er sie wirklich gefunden hatte.

Annette umarmte ihn kurz schweigend und schritt davon. Er war dankbar für die Einsamkeit und grub seine Finger in die weiche Erde.

„Leb wohl, Marco. Ich hoffe du findest, was du immer gesucht hast.“

***
Nick hatte sich zur Gewohnheit gemacht, Sally’s Gym und Annette regelmäßig zu besuchen und Dinge über Marco zu erfahren, die er von ihm selbst nicht mehr hatte hören können. Dabei fielen ihm eines Tages die Fotos im Fenster des benachbarten Tattoostudios auf. Es versetzte Nick regelrecht einen Schlag, als er darauf Marco erkannte, der nur in Unterhose bekleidet für den Fotografen posierte und sein beeindruckendes Brust- und Ärmeltattoo zeigte. Der Tattookünstler überließ Nick Abzüge der Fotos und nach reiflicher Überlegung entschied er sich, einen weiteren Schritt zu gehen, um Marco für immer im Gedächtnis zu behalten.

***

„Hat das nicht weh getan?“, fragte Anna und betrachtete voller Staunen das schöne Ärmeltattoo, das Nicks Arm verzierte und durch das kurze T-Shirt zu sehen war.

„Doch hat es. Glaubst du, deine Mutter wird es gutheißen?“, lächelte er, während er die Tafel mit einem nassen Schwamm löschte.

„Ganz sicher nicht. Ich kann es kaum erwarten bis sie es sieht. Sie sind so cool. Wieso haben Sie es machen lassen?“ Anna packte ihre Schultasche auf ihre übliche Weise – sie wischte die Gegenstände auf ihrem Tisch mit einer Armbewegung in die geöffnete Tasche.

„Weil es mich an einen guten Freund erinnert.“ Nick wollte keine Schwermut vor einer Schülerin aufkommen lassen, aber der Knoten in seinem Hals hatte sich bereits geformt.

„Wow, ich wäre stolz wenn jemand so etwas für mich machen würde. Ich wünsche Ihnen ein schönes Wochenende.“ Sie lief winkend aus dem Raum.

„Danke, Anna. Dir auch.“ Nick wandte sich zum Fenster und blickte auf die Bäume. Im Schulhof hatte jemand ein Radio laufen. Das Lied, das gerade zu hören war, passte überhaupt nicht zu dem sonnigen Wetter. Es war ein spanischer Pop-Song mit dem klingenden Refrain „Dancing in the Rain“, den Nick plötzlich als das Lied erkannte, das Marco in ihrer gemeinsamen Nacht im Park gesungen hatte. Er ließ den Schwamm fallen und lief nach unten in den Schulhof.

Er blickte in den klaren blauen Himmel, hob die Arme und spürte die warmen Strahlen der Sonne auf seinem Gesicht.   

Wir tanzen im Regen. Wir tanzen als gäbe es kein Ende, bis zum Anbruch des Tages. Wir tanzen weiter im Regen. Im Regen….

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