Er erwachte mit einem leisen Aufschrei und wusste nicht wo
er war.
Jiroh fasste sich an den Kopf und massierte seine Schläfe,
um den pochenden Kopfschmerz zu vertreiben. Die Nacht war noch nicht vorüber,
aber ein Geräusch hatte ihn geweckt. Er blickte um sich und sah Irdri
seelenruhig neben sich schlafen. Das Gesicht des Mädchens strahlte eine
Glückseligkeit aus, die Jirohs Erinnerungen zurückbrachte und ihm einen Stich versetzte.
Er mochte Irdri, zweifellos, aber er konnte ihr nicht das geben, was ihr
rechtmäßig zustand. Dennoch verstand er ihr Glück. Sie teilte sich mit ihm eine
große Liebe, für die Jiroh sogar bereit war, die Ehe einzugehen: Die Liebe zu
Moru.
Jiroh sah sich erneut um. Die andere Seite des Bettes war
leer. Wo war Moru? Die Morgenröte war noch weit entfernt. Es war viel zu früh
und zu gefährlich, um das Haus zu verlassen. Jiroh befreite sich aus dem
Bettlaken, das sich wie eine Schlange um seine Füße gewickelt hatte und verließ
leise das Schlaflager. Das Haus bestand aus einem großen Wohnraum mit einer
Küchennische und dem mit einem verzierten Paravent abgetrennten Schlafbereich.
Die Glut des Herdfeuers vom Vortag spendete angenehme Wärme und erleuchtete den
Raum sanft. Jiroh trat um den Paravent – ein Hochzeitsgeschenk von Irdris Mutter
– und ging durch den stillen Raum. Seine Hände glitten über die raue Oberfläche
des Tisches, auf dem Irdri gestern die Taoka-Bohnen geschält hatte, die Moru ihnen
gebracht hatte. Die Schalen lagen noch in einem geflochtenen Korb unter dem
Tisch und verströmten einen würzigen Duft, der Jirohs Appetit anregte. Wo war
Moru?
Wieder blickte er sich verwirrt um und strich seine Hand
durch das schulterlange schwarze Haar. Ein Windhauch streifte seine Wange und
Jiroh hörte das leise Knarren der Eingangstür, die sich durch den Luftstrom
leicht öffnete. Das war es, dachte Jiroh. Das Geräusch, das ihn geweckt hatte.
Jiroh tastete neben der Tür nach seinen Schuhen und stellte
überrascht fest, dass Morus Schuhe noch immer neben Irdris und seinen Schuhen
standen. Vermutlich war Moru bloß dem Ruf der Natur gefolgt und würde Jiroh
schelten, wenn er ihm jetzt nachging. Doch Jirohs Gedanken kreisten nachts
immer um die düsteren Legenden der Älteren und deren Warnungen an die Kinder,
niemals nachts allein nach draußen zu gehen. Moru würde darüber gewiss lachen.
Er, der immer der stärkste und selbstsicherste der älteren Jungen im Dorf war,
würde sich über alte Legenden keine Gedanken machen.
Vermutlich waren sie
unvorsichtig und sind in den Abgrund gestürzt. Das ist die eigentliche Gefahr,
Jiroh. Nicht irgendwelche Schatten aus alten Legenden. Also geh nicht zu nahe
an die Grenze, egal ob bei Tag oder Nacht.
Jiroh konnte Morus fröhliche Stimme in seinem Kopf hören,
doch wieder wurde sie von seiner eigenen, besorgten Stimme übertönt. Selbst
wenn der Abgrund die größte Gefahr für sie darstellte, sollte Moru trotzdem
nicht nachts alleine draußen herumspazieren.
Der Nachthimmel war sternenklar und hatte leichten Raureif
auf den Gräsern hinterlassen, der im Licht der Sterne glitzerte und die Umgebung
zu einer magischen Märchenlandschaft verwandelte. Jiroh lauschte angestrengt.
Wohin mochte Moru gegangen sein?
Geht niemals bei
Dunkelheit in die Nähe des Waldes. Er ist gefährlich. Wenn euch nicht eine der
Baumkatzen erwischt, werden es die Schatten tun.
Moru hätte darüber gelacht. Vermutlich war das der Grund,
weshalb Jiroh sich entschloss, zuerst den Weg in Richtung Wald zu erkunden.
Moru konnte bestimmt nicht weit entfernt sein. Nach wenigen langsamen Schritten
fiel Jiroh in einen Lauf und duckte sich unterhalb eines Dachvorsprungs. Er
hörte das leise Geräusch eines Nachtvogels, der lauernd durch die Luft glitt.
Ein großer Schatten verdunkelte die Sterne und zog rasch vorüber. Ein Schatten.
Jiroh erschauderte.
Er wartete einen Augenblick und lief dann weiter in Richtung
Wald. Es war nur ein kurzer Weg, ehe die Bäume sich drohend und dunkel vor ihm erhoben.
Der Weg führte geradewegs in die beklemmende Düsternis. Jiroh zögerte. Wenn euch nicht eine der Baumkatzen erwischt…
Vielleicht war Moru gar nicht hier lang
gegangen, vielleicht… Ein kurzer Aufschrei riss Jiroh aus seinen Gedanken. War
das Morus Stimme? Der Ruf kam nicht aus dem Wald, sondern von der Weide. Jiroh
rannte am Rand des Waldes entlang, bis er die freie Steppe erreichte, wo
tagsüber Ziegen grasten, die einzigen Tiere, die keine Angst vor dem
gefährlichen Abgrund hatten, der die ausgedehnte Wiese begrenzte. Jiroh sah
wieder den geheimnisvollen Vogel durch die Luft gleiten. Er war riesig,
zweifellos größer als die Flughunde, die aus den Nebeltälern kamen und
gelegentlich eine Rast im Wald einlegten. Das Tier schien etwas zu jagen. Eine
Gestalt, die taumelnd durch das Gras stolperte. Jiroh konnte nicht erkennen,
wer es war. Das Licht der Sterne war zu schwach, aber Jirohs Gefühl sagte ihm,
dass es Moru sein musste. Wieder ein kurzer Aufschrei, als der Gejagte die
Gestalt des dunklen Vogels hinter sich bemerkte. Sein Lauf wurde schneller und
unbedacht. Mit Entsetzen erkannte Jiroh, dass der Mann geradewegs auf den
Abgrund zulief.
Jiroh sprintete los. Das Gras flog unter seinen Füßen
vorbei. Die von Felsbrocken übersäte Wiese brachte ihn an mehreren Stellen
beinahe zu Fall, doch Jiroh hielt zielstrebig auf den Mann zu, in dem er Moru
zu erkennen glaubte. „Moru!“ Sein Schrei durchschnitt die Stille der Nacht wie
ein Messer. Der Mann hielt kurz vor dem Abgrund inne, drehte sich zu Jiroh und
erwiderte seinen Ruf, doch im selben Moment traf ein gellender Schrei auf
Jirohs Ohren und ließ ihn erstarrt zu Boden sinken. Das geflügelte Wesen gab
ein metallisches Kreischen von sich, dass Jirohs Gehör einige Sekunden lang betäubte.
Seine Augen blieben jedoch auf Moru haften. Moru, den er jetzt an seiner
stolzen Haltung erkannte, hatte den Blick entsetzt auf das reptilienartige
Wesen gerichtet, das kurz vor ihm zu Boden sank, riesige Flügel
drohend ausbreitete, während es seinen drachenähnlichen Kopf streckte und mit seinen scharfen Zähne nach Moru schnappte. Betäubt von dem gellenden Schrei trat Moru
einen Schritt nach hinten und verlor den Boden unter seinen Füßen.
„Moru!“ Jiroh konnte den Fall hinter dem Vorhang aus Tränen
kaum sehen. Seine Hände ballten sich zu Fäusten und rissen hilflos an den
Grashalmen, während er versuchte, sich aufzurichten.
Das geflügelte Wesen gab einen weiteren Schrei von sich und
hob den Kopf triumphierend, ehe es Morus Fall folgte und in die Tiefe stürzte.
Jiroh taumelte zu der Stelle, wo er Moru zuletzt gesehen hatte und blickte nach
unten. Das Nebeltal war dunkel und von Wolken verhüllt, die im Licht der Sterne
wie frisch geschnittene Wolle aussahen und verträumt glitzerten. Am Rand des
Abgrunds lag eine Halskette. Ein Lederband mit einem grob geschnitzten Totem,
das Jiroh als Morus Schutztier erkannte. Sein Gefährte war in die Tiefe
gestürzt und hatte jenes Schicksal erlitten, vor dem er Jiroh gewarnt hatte.
Dennoch klangen auch die Worte der Älteren nicht länger abergläubisch.
Wenn euch nicht eine
der Baumkatzen erwischt, werden es die Schatten tun.
Jiroh umklammerte Morus Totem in seiner Hand und spürte
warme Tränen seine Wange hinab rollen. Moru….
© Copyright 2014, Jiroh Windwalker
Alle Rechte vorbehalten.
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