Das letzte Licht der hereinbrechenden Abenddämmerung fiel auf schroffe Felsen, die das Tal zu einer nahezu undurchdringlichen Wildnis aus Stein machten. Am Fuß der langgezogenen Schlucht sammelte sich Wasser aus zahlreichen Sturzbächen in einem gemächlichen Fluss, der von dichten Wäldern umrahmt nur durch sein leises Gurgeln auf sich aufmerksam machte, das an den steinernen Wänden widerhallte.
Inmitten dieser rohen Schönheit stand ein einzelner Fels,
dessen Spitze nicht mit von Wind und Wetter geformten Steinriesen endete,
sondern eine bescheidene Kirche beherbergte. Erbaut auf jahrhundertealten
Steinmauern, von gelegentlichen hohen Bögen durchbrochen, thronte das Gebäude
in einer Atmosphäre von Stille und Einsamkeit. Die hellen Strahlen der
untergehenden Sonne tauchten die alte Kirche in ein warmes Licht und verliehen
ihr damit eine heimelige Wärme inmitten des unwirtlichen Tals. Eine Atmosphäre,
die das Hereinbrechen der Nacht unweigerlich zu Grabe tragen würde.
Schmale Stufen, in der steilen Felswand kaum zu erkennen,
führten aus den Tiefen der bewaldeten Schlucht in einem sanft ansteigenden
Kreis um den Fels in Richtung des mystischen Gotteshauses mit seinem beinahe
unwirklich anmutenden Glockenturm. Zwei in dicke Mäntel gehüllte Gestalten
erklommen die Stufen hastig, zweifellos hoffend, ihr Ziel noch vor Einbruch der
Nacht zu erreichen.
„Bist du sicher, dass dort oben niemand ist?“, flüsterte der
junge Mann und griff nach dem Mantel seines Begleiters, um ihn zurückzuhalten.
Seine Hand wurde ungeduldig weggeschlagen.
„Wie oft muss ich es dir noch sagen? Dort oben ist niemand.
Es ist ein verfluchter Ort, der von Menschen und Schatten gemieden wird“,
antwortete der drahtige Wanderer gereizt. Wenn sie noch weitere Pausen
einlegten, um immer dieselben Argumente zu wiederholen, würden sie es nie
rechtzeitig auf den Gipfel schaffen. Er
blickte zu dem Jungen hinter sich und forderte ihn mit einem Nicken auf,
weiterzugehen. Sein Begleiter wirkte wenig begeistert.
„Ich vermute er wird aus gutem Grund gemieden. Ich finde,
wir sollten mit dieser Tradition nicht brechen“
Jiroh sparte sich eine weitere Antwort und erklomm hastig
die rauen Steinstufen. Rechts von ihm fiel der Fels steil hinab und endete
irgendwo unterhalb der Bäume, welche die Sicht auf den Grund des Abhangs
verdeckten. Ihre Verfolger befanden sich zweifellos bereits ganz in ihrer Nähe
und warteten im Schutz des dichten Waldes auf eine Gelegenheit zuzuschlagen. Nur
die einsamen Kirchenmauern mit ihrer schrecklichen Vergangenheit schienen Jiroh
einigermaßen Schutz vor den Gefahren der Nacht zu bieten. Er hoffte inständig,
dass die Tore der Kirche für sie offen standen – und dass die alte Kirche noch
Tore besaß, die man verbarrikadieren konnte!
Die rosa aufleuchtenden Wolken verdunkelten sich langsam und
die untergehende Sonne ließ den leeren Vorhof der Kirche in Finsternis
versinken, als Jiroh und sein Freund Aran den Gipfel erreichten und auf das
verfallene Gebäude zueilten. Trotz des schlechten Zustandes der Mauern war die
Kirche intakt. Das große Holztor gab ächzend unter Jirohs Armen nach und das
Innere der Kirche öffnete sich vor den beiden Flüchtigen wie der dunkle Schlund
eines riesigen Ungeheuers. Aran schüttelte den Gedanken rasch von sich und warf
einen letzten Blick auf den terrassenförmigen Hof. Mit Schaudern fürchtete er,
jeden Moment dunkle Schatten auftauchen zu sehen, die, aus der Tiefe kommend,
über die bröckelnde Brüstung kletterten.
Er warf die Tür hinter sich ins Schloss und ließ sich erschöpft zu Boden
sinken. Seine Augen hatten sich noch nicht an die völlige Dunkelheit angepasst,
doch hörte er rasche Schritte auf sich zukommen und wich instinktiv zur Seite,
als ein großes Holzstück neben ihm zu Boden fiel.
„Hilf mir die Tür zu blockieren. Hier sind noch Holzbänke,
die noch nicht völlig zerfallen sind. Stapel sie vor dem Tor übereinander.“
Jirohs Stimme klang erschöpft doch bestimmt. Aran überging das mulmige Gefühl,
das ihn in diesem hohen Raum überkam, dessen Innenleben er in der Dunkelheit
nicht erkennen konnte. Lediglich der modrige Geruch wies darauf hin, dass
irgendwo Holzbänke stehen mussten. Vorsichtig tastete er sich voran und
stolperte über eine Bank, die offensichtlich nach vorne gekippt am Boden lag.
Er packte sie und trug sie langsam zurück zum Tor, wo Jiroh bereits eine zweite
Bank über der ersten platziert hatte.
Aran ließ sich müde auf die Bank fallen, die er – nicht ohne
Hintergedanken – mit der Sitzfläche nach oben vor das Tor gestellt hatte. Jiroh
gesellte sich schwer atmend zu ihm und zog seine Beine an sich, die Ellbogen
auf den Knien ruhend. Arans Augen gewöhnten sich langsam an die Dunkelheit und
er starrte Jirohs Profil an, ehe sein Blick über den hohen Raum mit den
gotischen Glasfenstern strich, die sich nachts als graue Flächen von den
tiefschwarzen Mauern abhoben.
„Und was jetzt?“, flüsterte er schließlich.
„Warten.“ Jiroh vergrub sein Gesicht in seinen Armen. Aran
konnte nicht erkennen, ob er versuchte einzuschlafen oder geräuschlos in seinen
Ärmel weinte. Er hatte Jiroh noch nie weinen gesehen und es schien ihm
unwahrscheinlich, dass er ausgerechnet jetzt damit anfing. Er stieß ihn
auffordernd in die Seite.
„Warum sagtest du, ist dieser Ort eigentlich verflucht?“
Seine Stimme war so leise, dass nur Jiroh ihn hören konnte. Der schlaksige
Junge saß bewegungslos, doch ehe Aran seine Frage wiederholen konnte antwortete
er leise.
„Ich weiß es nicht. Tatsache ist, dass niemand weiß wer die
Kirche gebaut hat. Sie war immer schon hier, solange sich unser Volk erinnern
kann. Die Erbauer sind vermutlich vor
irgendetwas oder irgendjemandem geflohen oder alle gestorben. Daher stammt die Legende
des Fluchs. Unsere Leute haben diesen Ort immer gemieden.“ Aran nickte
interessiert.
„Welcher Gott wurde
hier angebetet?“, stochert er weiter. Jiroh warf rasch seine Arme um Aran und
bedeckte seinen Mund mit einer Hand, den Kopf seines Freundes auf das Kirchenschiff
richtend, wo ein menschlicher Umriss vor einem der Fenster auftauchte. Waren
die Fenster eigentlich noch intakt oder war das Glas schon längst zerbrochen?
Entsetzen erfasste Aran, als er sah, wie die Gestalt ins Innere der Kirche
kletterte und in der Dunkelheit verschwand. In derselben Dunkelheit, in der er
mit seinem Freund in der Falle saß. Jiroh presste seine Handfläche kurz fester
auf seine Lippen, um ihn zu erinnern, nicht zu sprechen. Dann ließ er seine
Hand sinken und griff nach dem Dolch an seinem Gürtel, den er geräuschlos aus
der Scheide zog. Aran spürte den Puls an seiner Schläfe pochen. Eiskaltes
Entsetzen packte ihn.
„Kinder des Berges, fürchtet euch nicht“, raunte eine
heisere Stimme aus der Dunkelheit vor ihnen. Ein heller Lichtschein durchbrach
die Dunkelheit und die Gestalt legte drei leuchtende Steine vor Jiroh auf den
Boden. Das Gesicht des Fremden wirkte angespannt, doch nicht feindselig. Die
roten Tätowierungen, die sich von seinem Hals über seine Wange schlängelten
verliehen ihm dennoch ein angsteinflößendes Aussehen. Er schloß die Augen und
seufzte. „Moru schickt mich zu euch.“
Jiroh sprang wütend auf und näherte sich dem Eindringling
mit erhobenem Dolch. „Sprich nicht über Moru als sei er dein Freund! Ihr habt
ihm sein Leben gestohlen!“
Der Fremde hob die Handflächen als Friedenszeichen und trat
einen Schritt zurück. „Moru hat dafür gesorgt, dass ihr nach Hause zurückkehren
könnt, ohne von meinem Volk gejagt zu werden.“ Er deutete auf das hohe Tor
hinter ihnen. „Er ist hier. Du kannst mit ihm sprechen.“
Geräuschlos verschwand der geheimnisvolle Bote wieder in der
Dunkelheit. Aran ergriff Jirohs Arm, um den Jungen aus seiner Starre zu
befreien. Er erblickte Jirohs glasige Augen in der Dunkelheit und erschauerte.
„Du glaubst ihm?“
Aran konnte die
Gedanken seines Freundes förmlich hören, als dieser die Augen schloss und den
Kopf senkte. Jirohs Zerrissenheit ängstigte ihn mehr als seine eigene
Hilflosigkeit. Ohne Vorwarnung wirbelte Jiroh herum, steckte die Klinge weg und
kämpfte sich hastig durch die übereinandergestapelten Bänke zum Tor. Aran half
ihm, das schwere Holztor zu öffnen, das ächzend den Blick auf eine von
zahlreichen Fackeln erhellte Szenerie freigab.
Vermummte Gestalten standen in
einem Halbkreis vor ihnen. Einer der Fremden trat vor. Halbnackt und zitternd,
mit unsicherem Gang, sank er schon nach wenigen Schritten auf die Knie und
stützte sich mit einer Hand am Boden ab. Aran blieb wie angewurzelt stehen. Er
fühlte sich wie eine Maus im Angesicht eines Falken, während ein Dutzend Augen
auf ihm ruhten.
„Moru! Oh, Moru!“, Jiro kniete sich vor die Gestalt am
Boden, umfasste den Hals des Mannes mit seiner Hand und berührte zärtlich seine
Stirn mit seinen Brauen. Aran erkannte im Licht der Fackeln, dass der Mann
tatsächlich Moru war. Der selbe Moru, der ihn einst gelehrt hatte Wasserbeeren
zu ernten und Bergdrosseln zu jagen. In einer anderen Welt, vor langer Zeit.
Jirohs Gesicht war von Tränen durchnässt, während er den Kopf an die Stirn
seines Gefährten presste.
„Jiroh…“, Moru’s blutgetränkte Augen suchten Jirohs
ziellosen Blick. Moru hob das Kinn des Jungen und sah ihm in die Augen. Das
bleiche Gesicht des Mannes hatte nur wenig mit Jiroh’s Gefährten gemein und
dennoch waren die Züge vertraut. „Jiroh.. bitte geh nach Hause.“
„Wie könnte ich dich
zurücklassen? Wir sind soweit gekommen. Ich gehe nicht ohne dich.“ Der Junge
schluchzte bitterlich.
„Irdri braucht dich. Du musst jetzt auf sie aufpassen.“ Er
führte seine Lippen an Jirohs Ohren. Diese Worte waren nur für ihn bestimmt.
„Versprich mir, nachts niemals dem Ruf eines Sternenhundes zu folgen. Sie holen
nur die Unvorsichtigen, die sich vom Dorf entfernen.“
Jiroh nickte zögernd. „Bitte komm mit uns. Bleib nicht hier
bei diesen Schatten“, flüsterte er unter Tränen. Moru blickte zu Boden. Die
Hand mit der er sich auf der Erde stützte, war bereits von zahlreichen
Tätowierungen gezeichnet. Einem seltsamen Muster folgend schlängelten sich die
unnatürlichen Formen über seinen nackten Oberkörper und endeten auf seiner
rechten Wange.
„Ich kann nicht mit dir gehen. Meine Erinnerungen verblassen
mit jeder Stunde. Aber jetzt werden sie dich und Aran noch unbeschadet gehen
lassen. Sie haben es versprochen…. sie haben es versprochen.“ Moru senkte müde
den Kopf. Jiroh erkannte die Bissmale auf Morus Genick und erzitterte beim
Anblick der kleinen rote Punkte, durch die das Gift der Schatten in seinen
Körper gedrungen war.
Aran trat langsam hinter Jiroh und legte eine Hand auf seine
Schulter. Die Schatten hatten hinter Moru eine Passage in ihren Reihen
freigegeben, die zu den Stufen des Berges führte. Jiroh erkannte das Angebot
und schloss die Augen. Er musste eine Entscheidung fällen.
Langsam erhob er sich und nahm Arans Hand von seiner
Schulter. Seine Augen blickten gebannt auf den schmalen Durchgang in die
Freiheit, umgeben von den unwirklich anmutenden vermummten Schatten, die ihn
interessiert beobachteten. Sein Blick war kalt und leer, als er seinen Dolch
langsam aus der Scheide zog.
„Aran, lauf“, knurrte er. Sein Ton ließ keine Widerrede zu.
So sehr Aran sich Jiroh an seiner Seite wünschte, fügte er sich doch und glitt
vorsichtig an den Schatten vorbei. Ehe er die Stufen hinab lief, suchte er
Jirohs Augen und deutete mit einem Kopfnicken, ihm zu folgen. Jiroh blickte
entschlossen zu Boden und Aran verschwand aus seinem Blickfeld. Er hatte nicht
vor, denselben Weg zu gehen.
Eine Hand auf seinem Arm befreite Jiroh aus seiner Starre.
Moru sah ihn flehend an.
„Bitte…“ Seine Tränen hinterließen rote Bahnen auf seiner
Wange. Jiroh kniete sich zu ihm und hob den Kopf seines Gefährten, um ihm ein
letztes Mal in die Augen zu sehen. Sanft berührte er Morus Lippen mit seinem
Mund. „Ich lasse dich niemals zurück.“
Mit der Geschmeidigkeit eines Raubtieres sprang Jiroh auf
die Beine, entblößte den gezogenen Dolch und stürzte auf die umstehenden
Gestalten zu. Die Schatten hatten seinen Angriff erwartet und warfen ihn mit
einem Schlag gegen die Brust zu Boden, der ihm die Luft aus den Lungen presste.
Klirrend fiel der Dolch zu Boden. Unzählige Körper umringten ihn und hielten
seine Hände und Füße fest, bis Jiroh nur noch ein verschwommenes Gewirr aus
grauen Mänteln vor seinen Augen
wahrnahm, das sich schließlich teilte, um einer grässlichen Kreatur Platz zu schaffen,
die einem von Haut und Muskelfasern spärlich überzogenen Skelett ähnlich sah.
Die messerschaften Zähne in seinem Mund leuchteten im Schein der Laternen wie
ein Satz frisch geschliffener Messer.
Jiroh spürte den Biss an seinem Hals nicht. Sein letzter
Blick galt Moru, der sich unweit von ihm entfernt am Boden wand und seine Hand
nach Jiroh ausstreckte. Eine Geste, die Jiroh jegliche Angst und Zweifel nahm.
Er hatte Moru gefunden. Seine Reise war zu Ende. Nun würde er mit ihm vereint
sein, wenn auch nicht auf die Weise, die er sich zu Beginn seiner Reise erhofft
hatte. Das Gift in seinem Körper ließ seine Muskeln erschlaffen und seine Lider
wurden schwer. Er nahm das blutüberströmte Maul des Monsters ebenso wenig wahr,
wie die Hände, die ihn anhoben und seinen Körper aus dem Vorhof der verfallenen
Kirche trugen. Sein Geist verlor sich in der Dunkelheit der Nacht, die selbst
durch die Fackeln der Schatten nicht mehr erhellt werden würde.
Oh, Moru, was ist nun
aus uns geworden? Möge Aran den Weg nach Hause finden und uns vergessen, denn
wir sind verdammt…
©
Copyright 2014, Jiroh Windwalker
Alle Rechte vorbehalten.
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