Friday, January 2, 2015

Blätter im Wind

Die Bänke der evangelischen Kirche waren teilweise leer. In der Nähe des Pults saß die Familie des Verstorbenen mit senkten Köpfen, dahinter wurden die Reihen lichter und einzelne Trauergäste bevorzugten einen einsamen Platz im Hintergrund.

Mein Blick fiel auf die schwarz gekleidete Familie des viel zu früh verstorbenen Mr. Andrews. Ein schweres Krebsleiden hatte den Mann im Alter von 42 Jahren aus dem Leben gerissen. Es war tragisch, doch leider nichts Außergewöhnliches. Ich arbeitete als Pfleger in einer Einrichtung für Patienten mit schweren emotionalen Traumen und hatte Menschen an den unterschiedlichsten Dingen zugrunde gehen sehen. An einer Krankheit zu sterben schien mir immer eine der normalsten Arten zu sein, um aus der Welt zu scheiden. Aber ich hatte ja leicht reden, immerhin betraf der Todesfall mich nicht direkt.
Ich suchte Richards Hand, die auf seinem Knie neben mir lag und nahm sie in meine. Sie zitterte und war eiskalt. Seine Augen waren gefüllt mit Tränen, die jeden Moment seine Wangen hinunterfließen würden. Er reagierte nicht auf meine Geste des Mitgefühls.

Richard hatte nie über seinen Vater gesprochen. Aus seiner Reaktion auf meine Fragen am Anfang unserer Beziehung schloss ich, dass er zu seiner Familie keinen guten Draht hatte. Ich kannte ihn erst seit vier Monaten, wusste aber, dass er keinerlei Kontakt mit irgendeinem Mitglied seiner Familie hatte. Umso mehr überraschte mich sein emotionaler Zusammenbruch, als er die Nachricht vom Tod seines schwer kranken Vaters erhielt. Ich konnte mir ausmalen, was in ihm vorgehen musste. Im Streit auseinander zu gehen und dann niemals die Möglichkeit zur Versöhnung zu bekommen konnte einen Menschen zerstören. Ich war bereit, ihm durch diese schwere Zeit zu helfen.

Als ich ihn das erste Mal traf, war mein Interesse an ihm eher auf das Bett beschränkt. Mir 37 Jahren konnte ich einen 23-Jährigen nicht wirklich als ernsthaften Kandidaten für eine Beziehung sehen. Richard war zwar freundlich, zuvorkommend und reif für sein Alter, doch ich war sicher, er war lediglich auf der Suche nach dem nächsten Abenteuer, als er meine  Einladung auf einen Drink annahm und sich im Boots and Saddle zu mir setzte.
Das Abenteuer mit ihm war tatsächlich heiß und erfüllend - und zu meiner Überraschung nach der ersten Nacht nicht vorbei. Richard blieb und schien mit dem Leben mit mir zufrieden zu sein. Der geheimnisvolle junge Mann hatte aber von Anfang an etwas zu verbergen und es überraschte mich nicht, als er mir nach wenigen Wochen von seiner schweren Depression erzählte, die er seit Monaten behandeln ließ - mit wenig Erfolg, wie es schien.

Das Begräbnis seines Vaters würde nun bestimmt nicht zur Besserung seiner Verfassung beitragen. Seine Augen begannen zu zittern und Tränen rollten hinab, die er nicht mehr zurückhalten konnte. Richard bemerkte, dass ich ihn besorgt anstarrte und zog die Mundwinkel zu einem erfolglosen Lächeln hoch. Ein Schluchzen entkam seiner Kehle, das er nicht mehr unterbinden konnte. Einige Trauergäste blickten sich zu ihm um.

Plötzlich zog er mich von der Bank und stoplerte hastig nach draußen. Der Friedhof außerhalb der Kirche war menschenleer, ein leichter Regenschauer polierte die Marmor-Grabsteine auf Hochglanz und ließ das Gras und die bunten Blüten auf den Gräbern glitzern.

Ich erstarrte vor Schreck, als Richard plötzlich neben mir zusammenbrach und laut zu Schluchzen begann. Ich zog ihn hoch, damit seine Hosenbeine nicht nass würden und legte einen Arm stützend um seine Schulter.

"Sollen wir nach Hause fahren?"  Er lehnte sich schwer an mich und nickte.
"Ich bin sicher dein Vater weiß, dass du ihn geliebt hast, auch wenn du es ihm nicht mehr selbst sagen konntest." Ich hoffte, ihn damit zu trösten, doch plötzlich zitterte er und wurde von Muskelkrämpfen geschüttelt, die er nicht kontrollieren konnte. Ich lehnte ihn gegen die efeubewachsene Friedhofsmauer und er übergab sich zitternd.
Ich reichte ihm ein Taschentuch. Richard blickte mich mit verschleierten Augen an.
"Du musst mich hassen.", sagte er heiser lachend, immer noch nach unten gebeugt. Ich rieb meine Handfläche kreisend auf seinem Rücken.
"Natürlich nicht. Trauer ist schwer zu bewältigen. Er war schließlich dein Vater."

Richard richtete sich auf und holte tief Luft.
"Ich wünschte ich könnte um meinen Vater trauern so wie er es verdient hätte, aber ich kann es nicht."
Die Offenbarung überraschte mich. Auf mich hatte seine Vorstellung sehr überzeugend gewirkt, falls er mir damit sagen wollte, er hätte alles nur gespielt.
Er ging langsam weiter und schwieg, bis wir zu meinem Auto gelangten. Ich wollte gerade den Schlüssel in das Zündschloss stecken als er zu erzählen begann.

"Du weißt, dass ich keinen Kontakt zu meiner Familie hatte während ich auf die High School und aufs College ging. Aber einiges habe ich dir bisher verschwiegen.
Ich hatte nicht nur keinen Kontakt zu meiner Familie. Ich hatte keine Familie, zumindest wusste ich nichts von ihr. Ich wuchs im Bronx Family Center auf. Angeblich wurde ich von meiner Mutter nach meiner Geburt abgegeben. Meine Kindheit und Jugend verbrachte ich bei verschiedenen Pflegeeltern. Ich war kein schwieriges Kind, denke ich, aber die Verhältnisse meiner Pflegeeltern änderten sich häufig und so wurde ich weitergegeben an die nächste Familie, die gerade ein Bett für mich übrig hatte.
Als ich 18 wurde begann ich mich für diverse Dinge zu interessieren, die mit diesem Alter kamen. Unter anderem für meine Zuneigung zu Männern, besonders zu Männern die älter waren als ich."

Ich nickte. Es überraschte mich nicht, dies von Richard zu hören.

"So lernte ich Nick eines Abends kennen. 37 Jahre alt, eisgraue Augen, pechschwarze Haare und gut gebaut. Er war mein absoluter Traummann und ich hätte alles getan um ihn ins Bett zu kriegen. Er war alles was ich mir gewünscht hatte. Zärtlich, zuvorkommen und sein Lächeln berührte mich auf eine Weise wie ich es noch nie gefühlt hatte.
In seinen Armen war ich geborgen und frei. Mein erstes Mal mit ihm war unglaublich. Er gab mir die Zeit die ich brauchte und zeigte mir in den folgenden Wochen die schönsten Seiten der Liebe zwischen Männern. Ich wollte mein gesamtes Leben mit ihm verbringen und er auch mit mir.

Seine Familie fand sich schließlich damit ab und akzeptierte mich als seinen Partner. Wir verbrachten Urlaube gemeinsam, hatten einen gemeinsamen Freundeskreis und machten Pläne für die Zukunft. Ich absolvierte das College mit Bravour, ständig wissend, dass Nick und unser gemeinsames Bett auf mich warteten wenn ich nach Hause kam."

Richard begann wieder zu weinen. Ich fragte mich, worauf er hinauswollte.

"Dann kam der Abend, als Nick mir mit bleichem Gesicht sagte, dass sein letztes Blutbild nicht gut ausgefallen war. Ich dachte an HIV und war am Boden zerstört, doch Nick beschwichtigte mich und erzählte mir etwas von dem, was der Arzt ihm gesagt hatte. Ich verstand nicht viel davon, aber es schien definitiv keine HIV-Infektion zu sein. Wenige Tage später brachte er einen Befund nach Hause und offenbarte mir seine Diagnose: Lungenkrebs.
Er meinte er hatte in seiner Jugend vielleicht zu viel geraucht, aber was immer der Grund war, die Diagnose blieb die Selbe.
Ich raffte mich zusammen und versprach ihm, ihm in dieser schweren Zeit beizustehen. Ich würde eine Auszeit nehmen um mich um ihn zu kümmern, sobald er die Behandlung begann."

Richard schniefte und wischte sich mit seinem Ärmel über das Gesicht.

"Dann kam der Anruf. Eine Mitarbeitein des Bronx Family Centers hatte einen Brief von einem Notar bekommen. Eine verstorbene Frau hatte ihn hinterlegen lassen und verfügt, dass der Brief nach ihrem Tod an meinen Namen unter der Adresse des Centers zugestellt würde. Sie hatte sogar den Tag notiert, wann sie mich dort abgegeben hatte, damit man mich zuordnen konnte.
Ich brannte vor Neugier, die Zeilen meiner vermeintlichen Mutter zu lesen. Bestimmt würde sie sich entschuldigen, mich weggegeben zu haben, dachte ich mir. Als ich dann jedoch las, was darin stand, brach meine Welt zusammen.

"Ich erinnere mich noch genau an den Moment, als ich Nick - vor dem ich niemals Geheimnisse hatte - den Brief aufgeregt vorlas und dabei auf den Namen meines vermeintlichen Vaters stieß, den meine Mutter in ihren letzten Zeilen an mich nannte: Nicolas Andrews.

Ich lachte und dachte an einen schlechten Scherz, doch Nick nahm den Brief aus meiner Hand, sah den Namen unter der Unterschrift meiner Mutter und ließ das Schriftstück zu Boden fallen.
'Ich war mit Vera an der High School', gestand er mit kreidebleichem Gesichtsausdruck.
'Sie hätte mir doch gesagt, falls sie schwanger gewesen wäre.' Ich blickte ihn entsetzt an und schüttelte ungläubig den Kopf.
'Es tut mir so leid, Rich' Er streckte seine Hand nach mir aus, doch ich starrte den Mann nur ungläubig an. Nick, an dessen Körper ich mich nachts schmiegte, war für mich plötzlich verschwunden. Ich liebte Nick, liebte jeden Zentimeter seines Körpers, den Geschmack seiner Küsse, seines Samens auf meiner Zunge. Seine starken Arme, die mich zärtlich festhielten während wir uns irgendeine Romanze im Fernsehen ansahen.
Von einer Sekunde auf die nächste war dieser Mensch verschwunden und vor mir stand jemand den ich nicht kannte, nicht kennen durfte.

Ich drehte mich um und ging. Es kostete meine gesamte Kraft, mir selbst eine Wohnung zu suchen, meine Sachen zu holen während Nick arbeitete und einen Termin für einen Vaterschaftstest mit ihm zu koordinieren. Das Ergebnis war nicht mehr überraschend für mich.
Ich beantwortete keine Anrufe oder Nachrichten von Nick. Er konnte mir keine Briefe schicken, denn ich verschwieg ihm meine neue Adresse.
Die folgenden Wochen verbrachte ich im Bett und schämte mich. Tränen hatte ich mittlerweile keine mehr. Ich verlor meinen Job und suchte dann endlich Hilfe. Die Therapie war... anstrengend, aber ich wollte wieder leben. So lernte ich dich kennen. Mit Nick hatte ich keinen Kontakt mehr und mied seine....unsere.. Familie. Er hätte mich gebraucht. Jetzt ist er tot."

Ich blickte ihn erstarrt an. Ich wusste nicht was ich sagen sollte.

"Ich wünschte ich könnte um meinen Vater weinen, Alan, aber ich weine um so viel mehr. Ich weiß nicht ob ich jemals darüber hinwegkommen kann. Ich habe alles falsch gemacht." Er legte seine Handflächen auf sein Gesicht.

Meine Stimme klang heiser und angestrengt als ich sagte: "Nick hat dich geliebt. Es ist nicht deine Schuld, dass er gestorben ist. Es gibt Dinge, die kannst du nicht beeinflussen."

Sein Lächeln war beinahe mitleidvoll, als täte es ihm leid, mich mit seinen Problemen zu belasten.

"Hasst du mich jetzt?" Seine Hand griff nach meiner Hand. Diesmal war ich es, dessen Hand zitterte und fror.

Ich schüttelte den Kopf.
"Nein, Rich. Ich hasse dich nicht. Und Nick hasst dich auch nicht. Dessen kannst du dir sicher sein."

Ich wischte seine Tränen mit meiner Hand aus seinem Gesicht. Er blickte mich nachdenklich an.

"Können wir wieder hineingehen?" Er deutete zur Kirche hinter uns. Ich nickte und öffnete die Tür.  Der Kies knirschte unter unseren Schuhen während wir über den Kirchhof gingen. Entschlossen griff ich nach seiner Hand. Wir würden gemeinsam Abschied nehmen.

© Copyright 2014, Jiroh Windwalker 
Alle Rechte vorbehalten. 

No comments:

Post a Comment

Contact Form

Name

Email *

Message *