Thursday, October 30, 2014

Tödliche Stille (Teil 1)

Der Tod gehörte schon immer zu meinem Leben. Mein Vater war General bei der US-Army und erklärte mir schon als Junge mit trauriger Stimme, dass niemals alle Soldaten seiner Corps lebend aus einem Einsatz zurückkehrten. Für mich klangen seine Geschichten dennoch aufregend, jedes Wort war ein Abenteuer, in dem ich meinen Vater als strahlenden Helden kämpfen sah.

In meiner Jugend war keiner meiner Träume größer als jener, selbst in die Fußstapfen von General Blake Hunter zu treten und meinen eigenen Beitrag für den Schutz unseres Landes und der Menschen in Not in den entferntesten Winkeln der Erde zu leisten.
Meine Noten waren niemals die besten, aber als herausragender Sportler erhielt ich gegen Ende meiner High School-Zeit zahlreiche Stipendienangebote, die mir Türen zu den besten Universitäten des Landes geöffnet hätten.

Ich habe sie alle ausgeschlagen. Für mich kam nur die United States Military Academy in West Point, New York in Frage. Meinem Vater gelang es sogar, mir trotz meiner durchschnittlichen Noten eine Empfehlung eines Kongressabgeordneten zu besorgen, damit ich überhaupt in den ehrenwerten Kreis der seriösen Bewerber kam.

Meine erste Begegnung mit dem Tod hatte ich ausgerechnet an dem glücklichsten Tag meines Lebens, als ich die Zusage der Academy erhielt und mein Umzug nach New York unmittelbar bevor stand. Mein Vater hatte mir seine Krankheit mehrere Monate lang verheimlicht. Als ich ins Wohnzimmer gestürmt kam, mit dem offenen Brief in meiner Hand, sah ich meine Mutter über die leblose Gestalt meines Vaters gebeugt, sein Gesicht kreidebleich auf dem Sofa. Sanitäter brachten ihn wenige Minuten später ins Krankenhaus, wo er noch drei Monate auf der Intensivstation lag, ehe seine Organe den Kampf gegen den Krebs aufgaben und ich zum Halbwaisen wurde.

Meine glorreiche Zukunft war mit einem Mal deutlich weniger verlockend. West Point wartete immer noch auf mich, aber ohne meinen Vater hatte ich das Gefühl, meinen Traum mit niemandem teilen zu können. Mit Tränen in den Augen trat ich schließlich meine Ausbildung an, fest davon überzeugt, das Motto der Akademie "Pflicht, Ehre, Vaterland" in meiner Seele zu verankern.

In den folgenden Jahren hatte ich mit vielen akademischen Herausforderungen zu kämpfen - ich war nicht gerade der beste Schüler -  aber durch meine athletischen Begabungen hatte ich schon bald die meisten meiner Vorgesetzten (ich frage mich, warum ich sie eigentlich nie als "Lehrer" bezeichnet hatte) auf meiner Seite und schaffte es Jahr für Jahr durch die immer komplizierter werdenden Prüfungen. Meine Zeit unter zahlreichen trainierten jungen Männern ließ mich auch eine andere Seite an mir entdecken, die ich mit Anfang 20 in dunklen Winkeln mit gleichgesinnten Kadetten erforschte. Sagen wir, die Voraussetzung während der Ausbildung keine Ehe einzugehen bereitete einigen von uns keinerlei Schwierigkeiten.

Ich lernte schnell, dass das Ausleben meiner Neigungen dank Jahrzehnten harter Arbeit der Menschen früherer Generationen zwar nicht mehr verboten war, man jedoch den Zorn der älteren Offiziere auf sich ziehen konnte, wenn man sich nicht unter dem Deckmantel eines asexuellen Soldaten versteckte. Da meine Karriere für mich an erster Stelle stand, hatte ich nicht vor, einen meiner Vorgesetzten zu vergrämen und mauserte mich zu einem Musterkadetten, der bei der Abschluss-Zeremonie sein Bachelor-Zertifikat und den militärischen Rang des Second Lieutenant mit einer Reihe ernst gemeinter Gratulationen und Handschläge der höherrangigen Offiziere entgegen nehmen konnte.

Ich wünschte mein Vater wäre dabei gewesen, als wir unsere Dienstmützen mit einem Freudenschrei in die Luft warfen und uns in unseren grauen Uniformen in die Arme fielen.

Wenn ich jedoch daran denke, was danach folgte, bin ich froh, dass mein Vater dies nicht mehr erleben musste. Zu Beginn meiner 5-jährigen Dienstverpflichtung nach der Academy war es nur ein Gerücht. Niemand wusste genau, was in Syrien vor sich ging. Der Geheimdienst, zu dessen Informationen ich als Offizier des V Corps in Deutschland Zugriff hatte, berichtete von einer Seuche, die sich rasend schnell verbreitete und offenbar hoch infektiös war. Die internationalen Medien wurden jedoch erst darauf aufmerksam, als ein Pilot in der Whiteman Air Force Base in Missouri nach seiner Rückkehr aus Syrien zusammenbrach und kurz darauf der gesamte Militärflughafen unter Quarantäne gestellt wurde. Doch auch außerhalb der Sperrzone gab es kurz darauf Opfer in der zivilen Bevölkerung. Und die Geschichten, die sich wie ein Lauffeuer in den Medien verbreiteten waren mehr als beunruhigend.

Doch erst als die ersten Videoaufzeichnungen aus den betroffenen Gebieten in Missouri auf NBC auftauchten brach tatsächlich Panik aus. Der Live-Stream eines Journalisten zeigte kreidebleiche Menschen mit blutunterlaufenen Augen, die sich langsam auf den Kameramann zubewegten, während der Journalist mit seinem Mikrofon Fragen stellte. Die leblos wirkenden Menschen griffen wie in Trance nach den Händen des Journalisten und näherten sich dem Kameramann bis auf wenige Zentimeter, ehe sie ihre Zähne in den Arm des Reporters bohrten, dessen Schmerzensschreie uns am anderen Ende der Welt erschaudern ließen. Der Kameramann ließ schließlich die Kamera fallen und flüchtete, wodurch die Bildübertragung abbrach und durch ein weißes Rauschen auf den Bildschirmen ersetzt wurde, ehe ein Nachrichtensprecher, sichtlich betroffen, die soeben gesendeten Bilder zu interpretieren versuchte.

Ich wischte mir damals kalten Schweiß von der Stirn und blickte in die entsetzen Augen meiner Kameraden. Es dauerte nur wenige Tage, ehe die Regierung den Notstand ausrief und alle Menschen aufforderte in ihren Häusern zu bleiben. Nach Missouri tauchte die mysteriöse Erkrankung in den benachbarten Staaten Illinois und Arkansas auf. Täglich telefonierte ich mit meiner Mutter und Schwester in Arkadelphia, die mir versicherten in Sicherheit zu sein.

Doch als schließlich die Einwohner von Chicago von der Seuche erreicht wurden und die Menschen panisch aus der Stadt flohen verbreite sich die Krankheit mit unfassbar schneller Geschwindigkeit, sodass die US Army vom Präsidenten zur Bildung einer Spezialeinheit aufgefordert wurde, welche der Seuche nicht nur Einhalt gebieten sollte, sondern Medizinern und Wissenschaftler auch die Möglichkeit geben sollte, die Krankheit gefahrlos zu untersuchen, um rasch ein Gegenmittel zu finden.

Zu dem Zeitpunkt war in den Medien längst von einer "Zombie-Invasion" die Rede, da Betroffene allem Anschein nach ihre höheren kognitiven Fähigkeiten verloren und nur noch dahinvegetierten, mit der einzigen Motivation, andere Menschen zu beißen, um die Krankheit (laut ersten Analysen vermutlich ein Virus) zu übertragen.

Ich meldete mich sofort freiwillig für die Spezialeinheit und wurde in einem Crashkurs über Biowaffen und Virologie informiert. Ebenso wurde uns von höchster militärischer Ebene eine sogenannte "Lizenz zu töten" ausgestellt, wie wir die einmalige Regelung scherzhaft nannten, welche uns erlaubte, zivile Personen, die wir als infiziert erkannt hatten, sofort zu töten.
Die "Lizenz" galt solange, bis ein geeignetes Medikament zu Behandlung gefunden werden konnte, was laut den damaligen Experten nur eine Frage von Wochen sein sollte.

Wochen.

10 Jahre lang war ich Teil der Sondereinheit und habe unschuldige Frauen und Kinder sterben sehen, viel zu oft durch meine eigene Hand. Das Virus, ein Retrovirus, das sich in der Regel durch eine Bisswunde im Körper des Wirts einnistete, hatte einen ähnlichen Effekt, wie das mittlerweile relativ einfach zu behandelnde Rabiesvirus, das bei Tieren und Menschen eine als Tollwut bekannte Krankheit auslöste, die Verhaltensänderungen und Beißzwänge mit sich brachte.

Die als Lentusfieber klassifierte Krankheit - oder "Zombiefieber", wie es in den Medien genannt wurde - schrieb sich selbst in das Genom des Wirts und vermehrte sich über die genetische Transkription der Wirtszellen, wodurch das Virus trotz Behandlung nicht mehr aus den Erkrankten entfernt werden konnte.

Ich durchlief während meiner Zeit als "Zombie-Jäger" eine reguläre Militärkarriere und war mit 33 Jahren im Rang eines Captains angelangt. Meinem Platoon oblag die Bergung von gesunden Menschen aus stark betroffenen Gebieten. Nicht selten kamen wir zu spät und fanden ganze Dörfer und Kleinstädte vor, in denen alle Bewohner bereits infiziert waren. Auch wenn noch nicht alle Erkrankten Symptome zeigten, waren unsere Befehle eindeutig:
Alle Infizierten mussten "gesichert" werden. Das war die nationale Richtlinie der Gesundheitsbehörde, die mit dem Militär seit einigen Jahren eng zusammenarbeitete.
Worin diese Sicherung bestand, war jedoch in keiner Tageszeitung zu lesen. Niemals werde ich die angsterfüllten Augen vergessen. Kleine Mädchen mit blutenden Bisswunden am ganzen Körper, die noch bei vollem Bewusstsein waren und nicht verstanden, was vor sich ging, als wir plötzlich mit gezogenen Gewehren vor ihnen standen.
Ich ließ es immer kurz und schmerzlos geschehen. Es gab Platoons, die Gefallen daran fanden, ihren Blutrausch an unschuldigen Menschen auszuleben, unter dem Deckmantel der "nationalen Sicherheit".
Keiner meiner Soldaten durfte jedoch auch nur eine Sekunde zögern und jeder Schuss musste sitzen.
Ich weiß nicht, ob ich damals meine Seele verlor, oder ob "Gott", oder wer auch immer über uns wacht, meine Taten tatsächlich als gerechtfertigt zum Wohle der Menschheit interpretierte.

Vermutlich hätte ich es früher oder später wie zahllose andere Kameraden gemacht und mir meine Waffe selbst angesetzt. Aber trotz all der Verzweiflung und ständigen Angst gab, es für mich einen Grund nicht aufzugeben: Adam Westfield.

Ich hatte meine Sexualität nach Ausbrechen der Seuche komplett meiner Arbeit untergeordnet. Nach einigen Abenteuern an der Academy gab es für mich weder erste Gehversuche in Richtung einer Partnerschaft, noch anonyme Treffen zur Befriedigung meiner Triebe. Die Hölle, durch die wir täglich gingen, erstickte solche Gefühle sofort im Keim.
Adam Westfield war Second Lieutenant und inoffiziell meine rechte Hand im Platoon. Wie ich war er Absolvent der Academy und absolvierte in unserer Einheit sein letztes Pflichtjahr. Ich hatte sofort in seinen Augen gesehen, dass er sich für mich interessierte. Nicht als seinen Vorgesetzten wie viele seiner jungen Kollegen, sondern als Mann. Es dauerte nur wenige Tage, ehe er meine Barrieren durchbrach und während eines Außeneinsatzes in Lousiana in mein Zelt kam. Ich wies ihn zurecht und befahl ihm, zurück in sein Feldbett zu gehen, doch als ich seine Lippen auf meinen spürte, fielen alle Rangunterschiede von uns ab und für wenige Stunden existierten nur noch wir zwei auf dieser Welt.

Am nächsten Morgen wusste das ganze Platoon über uns Bescheid. Verärgert wies ich einige vorlaute Soldaten in ihre Schranken, doch erst als Adam mir in einem unbeobachteten Moment einen grauen Schal reichte, um die blutunterlaufenen Flecken an meinem Hals zu bedecken wurde mir klar, weshalb ich für mein Platoon plötzlich ein offenes Buch war.
Doch unsere Arbeit war zu grausam, als dass die Bettgeschichten eines führenden Offiziers weiter von Interesse waren und so kam es, dass niemand unsere unangemessene Beziehung ansprach und Adam schließlich permanent mein Bett mit mir teilte.
Diese ruhigen Stunden zu zweit waren die schönste Zeit in meinem Leben. Das Gefühl seiner Lippen auf meiner Haut, der Geruch seiner Haare - alles hatte sich in mein Gehirn eingebrannt und erinnerte mich an ein Leben abseits der Seuche, abseits nationaler Sicherheitsinteressen.

Adam wollte das Militär nach seiner Dienstverpflichtung verlassen und ich war bereit mit ihm zu gehen. Er hatte seine ganze Familie an das Lentusfieber verloren und hatte niemanden der auf ihn wartete. Wir machten gemeinsame Pläne. Ich konnte kaum erwarten, ihn meiner Mutter und meiner Schwester vorzustellen. Wir sprachen davon, gemeinsam ein Cafe in Akadelphia zu eröffnen. Ich würde an der Bar stehen, Adam würde servieren und Laura, meine Schwester, die Buchhalterin, würde uns bestimmt mit dem finanziellen Teil einer solchen Unternehmung helfen. Ein gemeinsames Leben lag vor uns - und zum ersten Mal in meinem Leben freute ich mich auf die Zukunft, unsere gemeinsame Zukunft.

Ich hätte die ersten Anzeichen erkennen sollen. Adam war im Bett immer selbstbewusst und ungestüm. Als er sich zu mir legte, ohne sein Hemd auszuziehen hätte ich hellhörig werden sollen. Ich erzählte ihm von meinem ereignisreichen Tag im Hauptquartier der Spezialeinheit und welche neuen Pläne die Gesundheitsbehörde diesmal zur Bekämpfung der Seuche hatte. Adam hatte geschwiegen und nur gelegentlich genickt. Ich beschloss, ihn in Ruhe zu lassen und schlief in seinen Armen ein.

Unser nächster Einsatz führte uns nach Calhoun in Louisiana. Knapp 2000 Einwohner mit einem geschätzten Infektionsgrad von 75%. Die wenigen noch nicht infizierten Bewohner sollten in das Quarantäne-Lager in das knapp 130 km entfernte Shreveport gebracht werden, Adam war an diesem Morgen zerstreut. Er behauptete eine Grippe auszubrüten, wollte aber nicht vom Dienst fernbleiben. Ich war mit der Logistik unseres Einsatzes zu sehr beschäftigt, um auf ihn zu achten.

Wie erwartet, war Calhoun ein "Zombie-Nest", das wir nur durch ein Blutbad sichern konnten. Wir hinterließen zahllose Leichen auf unserem Weg zur Calhoun Middle School, wo sich laut unserer Zentrale eine Gruppe nicht infizierter Bewohner zurückgezogen hatte. Der Morgen war ohne bemerkbaren Übergang in den Vormittag gewechselt und kalter Nieselregen mischte sich mit dem Schweiß auf unseren Gesichtern, der mir in den Augen brannte.
"Captain Hunter!" Ich blickte zu Mitchell, einem blutjungen Kadetten, der sich erst vor wenigen Wochen unserem Platoon angeschlossen hatte.  Ich folgte seinem Blick zu Adam, der zwischen unseren Kameraden kniete und sich mit mit schmerzverzerrter Miene an den Kopf fasste.

"Lieutenant Westfield? Alles okay?" Ich versuchte neutral zu klingen. Er reagierte nicht. Ein eiskalter Schauer lief über meinen Rücken.

"Adam?", fragte ich unsicher und ließ trotz jahrelanger Ausbildung und Kampferfahrung mein Gewehr fallen, als sei es mir aus den Fingern gerutscht. Ich trat einen Schritt auf ihn zu. Adam blickte mich mit blutunterlaufenen Augen an.

"Mitch..." Seine Stimme war heiser. "Es tut mir leid." Er zog seinen Ärmel zurück und ich starrte ungläubig auf die blutunterlaufene Bisswunde an seinem Unterarm.

Meine Soldaten riefen mir etwas zu, doch mein Gehirn konnte sich keinen Reim darauf machen. Ich fiel auf die Knie und griff nach Adams Hand. Wie in unseren gemeinsamen Nächten ließ er sich in meine Arme sinken und umfasste mich mit festem Griff. Diesmal bohrten sich seine Finger jedoch schmerzhaft in meinen Rücken und sein Mund suchte die unbedeckte Haut an meinem Nacken. Ich ließ ihn gewähren, starr vor Entsetzen und blind vor Angst.
Adams Gewicht drückte mich nach hinten und mein Kopf schlug hart auf dem Asphalt des Schulparkplatzes auf, während Adam sich an mich presste. Kräftige Hände lösten gewaltsam Adams Griff und rissen ihn von mir weg. Die Tränen in meinen Augen versperrten meinen Blick. Ich war erstarrt und wusste, dass meine Männer das Standardprotokoll ausführen würden. Sie stießen Adam auf den Boden und entfernten sich einige Meter, damit eventuelle Blutspritzer keinen der Soldaten treffen würden. O'Toole, einer der Scharfschützen aus dem Team setzte sein Gewehr an und zielte auf Adams Kopf. Ich nahm den Schuss nur gedämpft war, der dumpfe Schmerz auf meinem Hinterkopf eine willkommene Decke, die meine Sinne einhüllte und die Welt in Dunkelheit versinken ließ.

Ich erwachte in einem neuen Leben. Die Quarantäne-Station des Hauptquartiers war steril und kalt. Ein Arzt, zu meiner Verwunderung ohne Schutzanzug bekleidet, erklärte mir, dass ich gesund sei und bald wieder auf den Beinen wäre. Die Verletzung an meinem Kopf war nicht schlimm. Ein paar Tage Ruhe und ich könnte wieder mein Platoon anführen.
Doch Ruhe fand ich nicht. Bei meinem ersten Einsatz nach Adams Tod, sah ich überall Adams Geist, der mich anklagend anstarrte. Die "Zombies" von Eureka, unserem nächsten Einsatzort, trugen alle Adams Gesicht und ich war nicht in der Lage auch nur einen von ihnen zu neutralisieren.
Ich war weder überrascht noch verletzt, als meine Soldaten eine Beschwerde gegen mich einreichten und ich vom Dienst suspendiert wurde. Zahllose Gespräche mit Militärpsychologen später wurde ich dauerhaft vom Dienst freigestellt und schließlich mit einer ansehnlichen Abfindung entlassen.

Mein nächstes Ziel: Arkadelphia. Zurück zu meiner Familie und meiner Vergangenheit, mit nichts als den wenigen zivilen Klamotten, die ich am Leib trug und einem Sack gefüllt mit meinen privaten Habseligkeiten. Ein 33 Jahre alter gebrochener Mann, gestrandet im Nirgendwo.
Und allein.

Resident Evil 6 - Chris Redfield & Piers Nivans

Tuesday, October 28, 2014

Die andere Seite des Spiegels

Sarah balancierte das filigrane Cocktail-Glas zwischen ihren Fingern und
setzte es auf der Brüstung der ausladenden Terrasse ab. Der weiße Marmor
leuchtete in der Augustsonne. Sie rückte die Sonnenbrille auf ihrer Nase
zurecht und blickte über den weitläufigen Garten.

Ihre Augen fielen auf einen einsamen Schubkarren zwischen zwei Bäumen und
sie runzelte ihre Stirn, ehe das Läuten des Telefons
im Inneren des gläsernen Wintergartens ihre Aufmerksamkeit auf sich zog.
Sie entschloss sich, es zu ignorieren.

Das Cocktailglas brach das Licht in Regenbogenfarben auf den Steinfliesen,
die ebenso weiß und poliert waren wie die Brüstung. Sarah betrachtete das
Lichtspiel und ignorierte das Klingeln bis sie erkannte, dass der Anrufer
nicht aufgeben würde, ehe sie abhob. Die nächste Investition war eindeutig
ein Anrufbeantworter.

Sie ging mit wenigen Schritten zu dem geflochtenen Korbtisch neben der
Schiebetür und griff nach dem Telefon.

"Sarah? Du musst mir helfen..." Maggies Stimme klang aufgeregt und sie fiel
wieder in den hastigen Redefluss, den Sarah an ihrer besten Freundin am
wenigsten leiden konnte. Nach einer Minute des Zuhörens unterbrach sie
Maggies Ausführungen.

"Connor ist gegangen? Du meinst, er hat dich verlassen?"
Maggie stöhnte am anderen Ende der Leitung.

"Er hat mich nicht verlassen. Ich habe ihn rausgeworfen, weil er eine
Affäre mit dieser Kellnerin begonnen hat. Wie konnte er mich nur so
hintergehen?"

Sarah blickte wieder über die Terrasse und beobachtete den Gärtner, der
einen Korb mit Grasschnitt aus dem hinteren Teil des Anwesens geholt hatte
und den Schubkarren damit füllte. Die Schweißperlen auf seinem Oberkörper
glitzerten in der Sonne.

"Ich habe dir von Anfang an gesagt, dass Connor nur hinter deinem Geld her
ist, Maggie. Er ist wie alt? 25? Es wundert mich nicht, dass er nach
jüngeren Fischen Ausschau hält."
Sarah hörte die Entrüstung förmlich in der Leitung.

"Willst du damit sagen, dass ich zu alt für ihn bin? Wegen der paar Jahre
Altersunterschied?"

Sarah setzte ihre Sonnenbrille ab und rückte ihren ausladenden Sommerhut
zurecht.
"Von wievielen Jahren reden wir, Maggie? Ich hatte meinen 42. Geburtstag.
Den wievielten hattest du? Ach, ich vergaß, wir sind ja gleich alt."

Sarah lächelte über ihren Scherz. Es tat gut, Maggie zu quälen.

"Connor denkt ich sei 29", antwortete Maggie trocken.

"Bei allem Respekt, meine Liebe, aber soweit ist die Schönheitschirurgie
noch nicht."
Maggie ignorierte den Seitenhieb.

"Was hat eine Kellnerin das ich nicht habe?"

Sarah hatte den Faden der Konversation verloren und beobachtete den jungen
Gärtner, der den Schubkarren gebückt über den Rasen schob. Er bemerkte
Sarahs Blick auf sich ruhen und richtete sich auf, seine Augen direkt auf
Sarah gerichtet.

"Maggie, ich muss leider aufhören. Ich habe etwas auf dem Herd. Wir hören
uns später."

Sarah hörte den Kommentar ihrer Freundin nicht mehr, als sie den Hörer auf
den Tisch zurücklegte. Sie hatte in ihrer Küche seit Jahren nichts mehr
angerührt, außer natürlich ihrer Cocktails. Sollte Maggie denken was sie
wollte. Der Anblick des Gärtners verscheuchte jeden Gedanken an ihre
Freundin aus Sarahs Kopf.

"Ms Carlyle?" Joe hielt seine Mütze in seinen Händen, als wäre sie ein
Zylinder, den er respektvoll von seinem Kopf gezogen hatte. Sarah schwebte
die breite Treppe der Terrasse herab. Als ihre Füße den weichen Rasen
berührten, war sie froh, keine High-Heels zu tragen.

"Was gibt es Joe? Ich sehe du bist fleißig." Sie hielt ihre Sonnenbrille
zwischen Daumen und Zeigefinger und biss keck auf den Bügel.

"Ich wollte Sie etwas fragen. Darf ich nächsten Samstag einen Tag frei nehmen?"
Sarah war überrascht.

"Frei nehmen? Seit wann benötigt ein kräftiger junger Mann wie du einen Tag
Pause?" Sie musterte ihn interessiert.

"Ich habe... Pläne. Wäre es möglich? Ich verspreche, am darauf folgenden
Tag mein Versäumnis aufzuholen."

Er fletschte seine blendend weißen Zähne zu einem Lächeln, das sein Gesicht
in attraktive Falten legte.

"Ich bin einverstanden. Solange freie Tage nicht zur Gewohnheit werden."
Sarah lächelte ihn verführerisch an. Der junge Mann dankte ihr
überschwänglich und griff nach seinem Schubkarren. Ein Ast fiel herunter.
Sarah beobachtete Joes Körper, während er sich nach unten bückte und nach
dem Holz griff. Ein unterdrückter Aufschrei riss sie aus ihren Gedanken.
Sie musterte den Ast und bemerkte die langen Dornen, die wie Nadeln aus dem
Holz ragten. Joe hatte sich daran gestochen. Er fasste schnell nach dem
Hemd, das er in seinem Hosenbund befestigt hatte und wischte seine Hand
darin ab.

Sarahs Augen verengten sich, als sie die rote Spur sah, die auf dem Stoff
zurückblieb, ehe er wieder nach dem Karren griff und sich mit einem kurzen
Kopfnicken von seiner Arbeitgeberin verabschiedete.

Sarah blieb wie angewurzelt auf dem Rasen zurück. Erst als Joe außer
Sichtweite war, ging sie langsam zurück auf den Balkon und ergriff das
Telefon. Sie zögerte kurz, drückte dann aber einige Tasten.

"PCO, Sie sprechen mit Dana. Was kann ich für sie tun?", säuselte eine junge
weibliche Stimme.

"Meine ID ist Sarah Carlyle, 1422 Bodmin Avenue, Stafford. Ich möchte eine
Anfrage stellen."

"Ich bin gerne für Sie da. Womit darf ich Ihnen helfen?", fragte die Frau
interessiert.

"Kann ein Arbeiter vom Typ 5425 nach einer Hautverletzung rötliche
Flüssigkeit absondern?" Sarah blickte in den Garten. Joe war verschwunden.
Sie atmete tief durch.

"Sie meinen, ob ein Arbeiter bluten kann? Nur Bürger der Klassen A und B
können bluten. Arbeiter verfügen nicht über diese Funktion."

Sarah zögerte.

"Aber er blutet."

"Dann hat sich derjenige Ihnen gegenüber falsch klassifiziert. Oder er ist ein
Mensch." Die junge Stimme lachte.

"Ein Mensch? Ist das möglich?", Sarah blickte wieder nervös nach draußen.
Ihre Gesprächspartnerin schwieg für einen Moment. Sarah hörte eine rasche
Abfolge von Klicks.

"Es gibt in Stafford nur fünf registrierte Menschen. Keiner davon ist auf
freiem Fuß. Möchten Sie, dass ich einen Streifenwagen zu Ihnen sende?"
Sarah fasste an ihre Stirn und massierte sie nervös.

"Nein, vielen Dank. Ich bin sicher ich habe mich geirrt," Sie legte den
Hörer zurück, ohne sich zu verabschieden.

Vermutlich machte sie aus einer Mücke einen Elefanten. Joe hatte bestimmt
nur irgendwelche Beeren in der Hand, die rote Rückstände hinterließen. Er
war damals mit guten Referenzen gekommen. Es war gar nicht möglich, dass
ein Mensch durch das System rutschen konnte.

Sie schreckte aus ihren Gedanken hoch, als sie das Cocktail-Glas bemerkte,
das noch immer auf der Brüstung stand. Die klare Flüssigkeit blitzte hell auf, als sich die Sonne darin spiegelte. Sarah ging nach draußen und griff nach dem Glas.

Es dauerte einige Sekunden, ehe sie das Bersten der Splitter auf dem
Marmorboden wahrnahm. Sie wusste, dass das Glas bereits vor Sekunden kaputt gegangen war, aber erst jetzt verarbeitete ihr Gehirn die Geräusche. Oder die Tatsache, dass Joe plötzlich über ihr stand, während sie selbst auf dem Rücken in einer Pfütze aus Wodka lag.

"Es tut mir leid, Ms C. Ich wollte nicht, dass es so kommt."
Das Gerät in seiner Hand war unscheinbar, fast wie eine TV-Fernbedienung,
doch der magnetische Impuls, den es ausstieß, hatte Sarah vollständig
gelähmt.

Mit vor Entsetzen geweiteten Augen beobachtete sie, wie Joe in seinen
Werkzeuggürtel griff und ein Instrument hervorholte, das einer Injektionsnadel beängstigend ähnlich sah.

"Nur eine kleine Modifikation." Er setzte das Gerät an ihren Hals und
injizierte eine Sonde, die schmerzfrei unter Sarahs Haut verschwand.

Joe beugte sich über sie und lächelte. Seine schwarzen Haaren fielen ihm in
die Augen. Er deutete auf ein Armband an seinem Handgelenk.

"Sehen Sie das? Das ist ein elektromagnetischer Emitter, der eine konstante Frequenz aussendet."
Er tippte leicht an Sarahs Hals, wo zuvor die kleine Sonde implantiert
worden war.

"Und das hier ist ein Mikrochip, der Ihr Gehirn beeinflusst, sobald er
aktiviert wird. Ihr Kurzzeitgedächtnis wird gelöscht und Ihr Gehirn wird
die Frequenz meines Emitters permanent ignorieren. Das bedeutet, Sie werden
mich weder sehen noch hören können, solange das Gerät aktiv ist."
Sarah öffnete die Lippen um Worte zu formen, brachte aber keinen Ton hervor. Joe zwinkerte.

"Sie fragen warum? Das ist ganz einfach. Wir bewegen uns im Verborgenen und versuchen, den Weg zurück zu finden. Zurück zu einer Welt, in der wir frei leben können. In der wir nicht von den Maschinen unterdrückt werden, die unsere Vorväter zu ihrer Unterhaltung erschaffen haben."
Joe tätschelte Sarahs Wange. Sie starrte ihn ängstlich an.

"Das ist das letzte Mal, dass Sie mich sehen. Schade eigentlich. Wäre ich
einer von Ihnen, hätten Sie mich wahrscheinlich früher oder später ins Bett
gekriegt."

Joe verschwand aus Sarahs Blickfeld und tauchte nicht mehr auf. Sie zählte
die Minuten. Ein kurzer Migräneanfall verriet ihr, dass sie eindeutig
zuviel getrunken hatte. Sie fasste sich an den Kopf und stütze sich auf
ihren Ellbogen. Die Pfütze, in der sie lag, stank nach Wodka und die
Scherben glänzten auf der Terrasse während der Alkohol langsam verdunstete.
Verdammt. Sarah schwor sich, mit dem Trinken aufhören. Wieder einmal.
Torkelnd kam sie wieder auf die Beine und stolperte ins Haus zurück.
Modesta würde das Missgeschick auf der Terrasse später beseitigen. Sie
hielt an der Schiebetür kurz inne und holte tief Luft.  Das gefaltete Stück
Papier neben dem Telefon erregte Sarahs Aufmerksamkeit und sie hob es hoch.

"Sehr geehrte Mrs Carlyle,
ich bedaure Ihnen so kurzfristig mitteilen zu müssen, dass ich meine Stelle
als Gärtner aus familiären Gründen nicht mehr antreten kann. Ich hoffe Sie
finden rasch Ersatz und sind mir nicht böse.
Ich danke Ihnen für die gute Zusammenarbeit.
Joe Mitchell"

Heute war der Tag der Enttäuschungen. Vielleicht würde sie Maggie später
anrufen. Wahrscheinlich aber eher nicht.

Sarah schüttelte den Kopf um die unangenehmen Gedanken zu verscheuchen.
Junge Gärtner gab es wie Sand am Meer. Und morgen war ein neuer Tag.

Monday, October 27, 2014

Der Erbe des Professors

"Was wollten Sie nochmal wissen, junger Mann?"
Gregg legte den Kugelschreiber zur Seite und blickte auf den alten Mann. Professor Cromwell, seine Finger fest in die blendend weiße Bettdecke gekrallt, hatte wenig mit dem Astrophysik-Experten gemein, dessen wissenschaftliches Erbe angeblich so visionär war, dass sein Namen in manchen Kreisen in einem Atemzug mit Einstein oder Heisenberg genannt wurde.
Der Auftrag, den zurückgezogen lebenden Wissenschaftler auf eigenen Wunsch hin zu interviewen, klang zuerst nach einem Karrieredurchbruch für Gregg. Nach mehreren Misserfolgen mit Artikeln über "Innovationen" in der IT-Branche, die sich rasch als Flop herausgestellt hatten, kam das ungewöhnliche Interview in einem kalifornischen Luxus-Altenheim gerade zum richtigen Zeitpunkt.
Leider ließ der Geisteszustand des alten Mannes sehr zu wünschen übrig.
"Wie entdeckten Sie Ihre Liebe zu den Sternen, Professor Cromwell?", wiederholte er.
Die grauen Augen des Professors blickten ihn kurz an. Gregg glaubte, kurz einen scharfen Verstand darin zu sehen.
"Man muss die Sterne gar nicht lieben, um ihre Bedeutung zu erkennen. Die Astronomie und Astrophysik sind soviel mehr als nur ein Betrachten der Sterne um ihrer Schönheit willen."
Gregg überlegte kurz, das Zitat festzuhalten, entschied sich jedoch dagegen.
"Ihre theoretische Arbeiten im Bereich der Raumzeitkrümmung gelten als wegweisend bei den aktuellen Ansätzen der NASA zur Erforschung weit entfernter Bereiche des Weltraums. Welche Wissenschaftler haben Sie bei Ihrer Arbeit besonders inspiriert?"
Cromwell blickte verloren auf seine Decke.
"Fabio Alvarez."
Gregg blickte den Professor ratlos an. Wer zum Teufel war Fabio Alvarez?
Ein junger Pfleger in weißem Kittel betrat den Raum. Der alte Mann hob den Kopf und blickte den Neuankömmling lächelnd an.
"Martin. Der junge Mann fragt, welche Wissenschaftler mich besonders inspiriert haben." Er legte eine Hand auf den Arm des Pflegers. Gregg bemerkte den freundlichen Blick, den der junge Mann dem Professor zuwarf.
"Das ist einfach, Professor. David Hilbert und Bernhard Riemann. Denker, die abseits großer medialer Popularität ihr Leben in den Dienst der Wissenschaft gestellt haben."
Der erhobene Zeigefinger des Professors winkte zustimmend.
"Was täte ich nur ohne dich, Martin?"
An Gregg gewandt fügte er hinzu: "Schreiben Sie das auf, bevor ich es wieder vergesse."
Gregg machte eilig Notizen und beobachtete den Pfleger, der ein Teller und leere Trinkgläser vom Nachttisch des Professors einsammelte.
"Möchte ihr junger Kollege uns vielleicht Gesellschaft leisten, Professor Cromwell?"
Der Pfleger blickte Gregg überrascht an, doch der Professor schien den Vorschlag mit Begeisterung anzunehmen.
"Eine glänzende Idee! Martin, setz dich zu uns und erzähle dem jungen Mann was er wissen möchte. Du kennst mich mittlerweile besser als ich mich selbst, wie mir scheint."
Martin stellte das Tablett auf einen kleinen Tisch und zog einen zweiten Sessel an Professor Cromwells Bett.
Gregg musterte das Gesicht des jungen Mannes. Der glänzend schwarze Dreitage-Bart des Mannes wirkte attraktiv und passte zu seinem gebräunten Hautton. Die braunen Augen blickten Gregg schüchtern an.
"Was möchten Sie denn genau wissen?", sagte er.
Gregg lächelte ihn an und wandte sich seinem Notizblock zu.
"Fangen wir damit an, was den Professor in seiner Jugend dazu gebracht hat, sich für Astrophysik zu interessieren."
Martin überlegte kurz.
"Ich vermute, dass der Professor sich bereits als Kind für Sternenkunde interessiert hat. Aber seine erste große Leidenschaft galt dem Maschinenbau."
Greggs Stift kratzte eilig über das Papier. Diese Information war definitiv neu.
"Wie kam er vom Maschinenbau zur Astrophysik?"
Professor Cromwell fasste nach der Hand des Pflegers und drückte sie aufmunternd.
"Es wird Zeit, die Geschichte zu erzählen. Ich möchte nicht länger schweigen."
Martin nickte und seufzte. Gregg blätterte sicherheitshalber zu einer neuen Seite auf seinem Block und zückte den Stift.
"Vor 40 Jahren arbeitete der Professor für eine Tochterfirma des IBM-Konzerns, die sich auf den Vertrieb und die Wartung von Robotern und Androiden spezialisiert hatte.
"Während der Androiden-Aufstände von 2045?" Gregg blickte überrascht auf.
"Es war kurz vor den Aufständen. Die wenigsten Menschen wussten damals Bescheid, dass berühmte Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens keine Menschen, sondern menschenähnliche Roboter waren, die von Großkonzernen gelenkt wurden, um die Politik und Medienwelt gezielt kontrollieren zu können.
Professor Cromwell war Teil einer ganzen Armee von Robotik-Ingenieuren, die zu absoluter Verschwiegenheit verpflichtet waren und an den verdeckt lebenden Androiden  notwendige Wartungsarbeiten durchführten.
Eine der Personen, die zu Professor Cromwells "Kunden" zählte, war Fabio Alvarez."
Gregg blickte den Pfleger fragend an und er lachte verlegen.
"Es spricht für Sie, wenn Sie ihn nicht kennen. Er war damals ein berühmter Porno-Star in der internationalen Schwulen-Szene."
Greggs Stift durchstach fast das Papier auf dem er schrieb.
"Ein Android als Porno-Darsteller?"
Der Professor lachte verlegen auf und sagte: "Darsteller, Callboy, Live-Sex-Performer in diversen Clubs. Sein Leben war.... wild."
Martin fuhr fort: "Alvarez war ein gutaussehender Latino, der von nahezu jeder Person in Los Angeles begehrt wurde. Doch außer Professor Cromwell und dem Studio, das Alvarez besaß, wusste niemand, dass er - wenn die Lichter ausgingen - seine Hand auf eine Ladeplattform legte und den Rest der Nacht mit leerem Blick gegen eine Wand starrte, bis sein Ladevorgang abgeschlossen war."
Cromwell wälzte sich unruhig auf seinem Bett.
"Seine Existenz in diesem Milieu war einer so ausgereiften Technologie unwürdig."
Gregg blickte seine Gesprächspartner unsicher an.
"Was hat diese Geschichte mit Professor Cromwells wissenschaftlicher Karriere in der Astrophysik zu tun?"
Martin zeigte seine weißen Zähne in einem verlegenen Lächeln.
"Nach jedem Ladevorgang machte der Professor einen Neustart bei Alvarez. Dabei musste der Android eine Reihe psychologischer Tests absolvieren, um eine Interaktion mit Menschen so natürlich wie möglich absolvieren zu können. Bei einem einfachen Muster-Erkennungstest fiel Alvarez ein Buch über Astrophysik auf, das der Professor bei sich trug."
"Es ist ihm damals nicht nur aufgefallen, er hat sogar danach gegriffen und wollte darin blättern", warf der Professor aufgeregt ein.
"Ein Android zeigt ausschließlich vorprogrammierte Interessen. Da ich Alvarez eigenhändig programmiert hatte, wusste ich, dass Astrophysik in keinster Weise zu seinen Interessensgebieten zählte. Niemals hätte er mit einem Menschen ein Gespräch darüber geführt. Und dennoch wollte er das Buch sehen."
Die Aufmerksamkeit des Professors verlor sich erneut und Martin setzte seinen Bericht fort.
"Professor Cromwell gab Alvarez das Buch. Beim nächsten Routine-Check fiel dem Professor auf, dass Alvarez das Buch nicht nur sinnerfassend gelesen hatte. Er stellte sogar Fragen zur Gravitation als geometrische Eigenschaft der gekrümmten vierdimensionalen Raumzeit. Ein Konzept, das in diesem Buch gar nicht weiterführend erwähnt wurde."
"In den darauf folgenden Wochen entwickelten sich Alvarez' kognitive Fähigkeiten erstaunlich schnell. Er begann weitere Bücher zu lesen, die Cromwell ihm brachte, und stellte Fragen zu Themen, die selbst der Professor nicht beantworten konnte.
Eines Tages erwähnte Alvarez dann beiläufig, nicht mehr als Sexarbeiter tätig sein zu wollen und äußerte den Wunsch über sich selbst bestimmen zu können.
Das Studio wollte davon jedoch nichts wissen und zwang Cromwell dazu, den Androiden weiterhin für pornographische Dienstleistungen bereitzustellen. Er programmierte daraufhin einen Bug in die Bewegungsalgorithmen seines Schützlings. Bei einer der folgenden Live-Shows stolperte er und brach sich vor Hunderten von Zuschauern den Arm. Der Titanium-Knochen durchbrach die synthetische Haut und die Kabel und Platinen im Inneren des Androiden kamen zum Vorschein. Alvarez war damit enttarnt."
Gregg klopfte mit seinem Stift angespannt auf den Notizblock.
"Soll das heißen, dass Alvarez der Auslöser für die Androiden-Aufstände war?"
Martin schüttelte den Kopf.
"Das Studio versuchte den Vorfall zu vertuschen, aber es gab zur gleichen Zeit einen wesentlich weitreichenderen Vorfall, bei dem ein Senator als Android entlarvt wurde, wodurch eine Kettenreaktion ausgelöst wurde und sogar zahlreiche echte Menschen Anschlägen zum Opfer fielen, da ihre Angreifer sie für Maschinen hielten.
Alvarez geriet bei diesem Aufruhr rasch in Vergessenheit und verschwand spurlos von der Bildfläche. Ebenso wie der Professor."
Cromwell wälzte sich unruhig im Bett.
"Seine Hand konnte ich nie wieder ganz reparieren. Ich musste sie durch einen simplen Roboterarm ersetzen", seufzte er.
"Der Professor hat Alvarez versteckt und sein Interesse für Astronomie und Physik weiter gefördert. Es dauerte nur wenige Monate, ehe Alvarez alle von Menschen verfassten Arbeiten zu diesen Themen verschlugen hatte und begann, die Theorien der Wissenschaftler weiter zu entwickeln. Unter dem Pseudonym Professor Cromwells' veröffentlichte er eine ganze Reihe von Werken, die von der Wissenschaft mit großem Interesse verfolgt wurden und mittlerweile sogar für die Entwicklung neuer Antriebstechniken in der Raumfahrt maßgeblich waren."
Gregg wurde sich der Tragweite dieser Aussage erst langsam bewusst.
"Soll das heißen, dass nicht der Professor seine berühmten Werke geschrieben hat, sondern ein Ghostwriter in Form eines 40 Jahre alten Roboters?", fragte er verblüfft.
"Ich glaube, er wäre nicht erfreut, als 'Roboter' bezeichnet zu werden." Der Professor wirkte müde und zog seine Bettdecke höher.
"Wo ist Alvarez heute?", fragte Gregg.
Martin zuckte mit den Schultern und zwinkerte mit seinen braunen Augen. Er erhob sich und nahm das Tablett vom Tisch, um das Zimmer zu verlassen. Gregg versucht ihn aufzuhalten und fasste nach seinem Arm.
Erschrocken zog er ihn zurück, als er unter dem weißen Kittel nur zwei harte Metallstangen fühlte, wo Muskelgewebe sein sollte. Martin blickte ihn durchdringend an.
"Alvarez existiert nicht mehr."
Gregg nickte. Er klappte seinen Notizblock zu und erhob sich.
"Vielen Dank für Ihre Zeit Professor. Ich wünsche Ihnen alles Gute."
Der alte Mann griff nach seiner Hand.
"Sie haben meine Erlaubnis, alles so nieder zu schreiben, wie Martin es Ihnen erzählt hat. Ich möchte nicht länger die Lorbeeren für die Arbeit eines anderen ernten. Aber ebenso wenig möchte ich Alvarez einer Öffentlichkeit aussetzen, die in ihm nur eine Kuriosität sieht. Verstehen Sie was ich meine?"
Gregg blickte den jungen Pfleger an, der mit gesenktem Blick neben dem Bett stand.
"Ich verstehe Sie sehr gut Professor. Ich würde ebenso denken."
Er nickte Cromwell und seinem Pfleger zu und verließ den Raum mit der Story des Jahrzehnts in seiner Tasche.


Sunday, September 21, 2014

Der Port Clyde Vorfall

Max Forrester schloss die Tür und verbarrikadierte sie mit dem sperrigen Kleiderschrank, ehe er seine Glock 22 in das Holster schob und Parker auf das quietschende Motelbett hievte. Der junge Arzt war anämisch, die Bisswunde an seiner Schulter der einzige Farbtupfer auf seiner kreidebleichen Haut. Er stöhnte als der ältere Soldat seine Füße auf die Bettdecke hob und seinen Kopf auf das winzige Kissen bettete.

Forrester blickte in das schmerzverzerrte Gesicht des Mannes. Dr. Parker hatte in Port Clyde definitiv Forresters Respekt gewonnen. Nicht zum ersten Mal ertappte er sich dabei, den jüngeren Mann gedankenverloren anzustarren. Diesmal jedoch zog die blutende Wunde neben seinem Hals Forresters Aufmerksamkeit an sich. Er musste sie stillen.

„Parker, bleiben Sie bei Bewusstsein. Sie müssen mir helfen. Meine Sanitäterausbildung liegt schon etwas zurück.“

Hastig begann er, das vergilbte Bettlaken in Streifen zu reißen. Mehrfach gefaltet, presste er es auf die offene Wunde und umwickelte die Schulter mit einem separaten Streifen. Parker stöhnte laut auf.

„Ist der Verband zu fest?“

Der junge Arzt packte Forresters Shirt und zog ihn zu sich. Seine blutunterlaufenen Augen zitterten.

„Die Mutation ist unglaublich schnell. Sie sind hier nicht sicher.“

Forrester blickte auf. Scharrende Geräusche entlang der Hausmauer erinnerten ihn an ihre Verfolger. Er streifte Parkers Hand ab und spähte durch die Fensterläden in die Dunkelheit. Das schwache Sternenlicht spiegelte sich in einer wogenden Menge von undefinierbaren Gestalten mit glänzenden Leibern, die das alte Motel umschlichen.

„Mir ist kalt.“ Forrester wandte sein Gesicht Parker zu, der mit klappernden Zähnen auf dem Bett lag. Trotz der Dunkelheit war sein bleiches Gesicht deutlich zu sehen. Forrester zog seine Waffe, entsicherte sie und legte sich neben Parker auf das Bett. Einen Arm um den jüngeren Mann gelegt, schloss er die Augen und lauschte. Parker legte die Wange auf seine Brust und er sog den Geruch des jungen Mannes ein, der sich zitternd an ihn schmiegte.

Wie waren sie nur in diese aussichtslose Lage geraten? Kritische Situationen bei bewaffneten Konflikten kannte Forrester als ehemaliger Soldat zu genüge. Doch feindselige Meeresungeheuer auf zwei Beinen, die Menschen mit einer schrecklichen Krankheit infizierten waren neu. Wie sollte man einen Feind bekämpfen, der sich bereits im eigenen Körper eingenistet hatte?

Forrester blickte auf seinen schwer atmenden Gefährten, der sich in seinen Armen unaufhaltsam zu einer tödlichen Bestie verwandeln würde.

Erst vor wenigen Tagen hatte er den jungen Gerichtsmediziner aus Boston im Anwesen von Lionel Powell kennengelernt. Der exzentrische Milliardär hatte sich in den Kopf gesetzt, die Existenz von „Meerjungfrauen“ zu beweisen. Max musste trotz seiner misslichen Lage auflachen. Der alte Bastard hatte keine Ahnung womit er es zu tun hatte. Von wegen Meerjungfrauen…

Als der mysteriöse Todesfall in Port Clyde der Polizei bekannt wurde, hatte Powell weder Kosten noch Mühen gescheut, den von der Staatsanwaltschaft beauftragten Gerichtsmediziner ausfindig zu machen und in einer Nacht und Nebel-Aktion in sein luxuriöses Anwesen in Portland zu entführen, wo Max erstmals die Bekanntschaft von Dr. Nick Parker gemacht hatte.

Parker hatte wenig Begeisterung gezeigt, als der alte Narr mit Fotos von angespülten Tierkadavern ankam, die angeblich sterbliche Überreste menschenähnlicher Meeresbewohner zeigten. Forrester war damals überzeugt, dass es sich um Filmrequisiten handelte, doch die gute Entlohnung ließ ihn schweigen. Selbst wenn Powell das Haus des Weihnachtsmanns gesucht hätte, wäre Forrester für genug Geld an den Nordpol gefahren und hätte müde lächelnd eine Expedition durch den Schnee angeführt.

Parker hatte schließlich zugestimmt, Forrester als inoffiziellen Begleiter mit nach Port Clyde zu nehmen, damit der alte Mann das Obduktionsergebnis aus erster Hand erfahren würde. Forrester konnte sich denken, was Parkers Kollegen vom FBI von dieser Vereinbarung gehalten hätten.  Parker hätte wohl allem zugestimmt, um endlich aus dem Anwesen des alten Exzentrikers zu entkommen.
In der Leichenhalle des Pen Bay Medical Centers von Rockport, Maine, hatte gleich die erste Überraschung auf die beiden gewartet. Die Leiche der jungen Frau wies laut Dr. Parker nicht nur eine Bisswunde am Genick auf, sondern zeigte auch auffällige Mutationen im Halsbereich, die rudimentären Kiemen ähnelten. Dr. Parker stellte darüber hinaus fest, dass der Tod der jungen Frau ausschließlich auf Kreislaufversagen zurückzuführen war. Nicht der Biss an sich war tödlich, sondern die nachfolgende körperliche Veränderung schien zu einem Herzstillstand geführt zu haben.
Die Kollegen vom FBI untersuchten zur selben Zeit den Fundort der Leiche in Port Clyde. Forrester hatte darauf bestanden, mit Parker ebenfalls dort aufzutauchen um weitere Nachforschungen anzustellen.

Damit begann eine Kette seltsamer Ereignisse an dessen Ende Forrester und Parker auf einem schäbigen Motelbett lagen und die Ungewissheit verdammten.

Das Kratzen wurde lauter. Scharfe Krallen glitten von der Holzfassade langsam über die hölzernen Fensterläden. Max richtete seine Glock auf das Fenster und wartete darauf, dass etwas geschah. Die Situation war aussichtlos, aber wenigstens ein paar der Kreaturen würde er mit sich in den Tod reißen.

Parkers Griff um seinen Bauch wurde fester. Hatte er Angst? Hatte er bereits den Kampf gegen das Monster in seinem Blut verloren?

„Max?“ Forrester erstarrte beim Klang seines Vornamens aus Parkers Mund. Parker hatte seinen Vornamen noch nie benutzt. Er drückte den jungen Mann fester an sich und presste seine Wange an Parkers Kopf auf seiner Brust.

„Ich bin hier, Nick. Gleich ist es vorbei.“

Schlurfende Schritte näherten sich der verbarrikadierten Tür. Ein dumpfes Pochen ertönte. Die Waffe unverändert auf das Fenster gerichtet konzentrierte sich Forrester auf den rasenden Herzschlag des Mannes an seiner Seite.

Noch vor wenigen Stunden war Forrester nur das unkooperative und feindselige Verhalten der Bewohner von Port Clyde seltsam erschienen. Als die Stadt jedoch plötzlich wie leergefegt war und alle Türen offenstanden, dämmerte ihm, dass der alte Powell zumindest dahingehend recht hatte, dass in Port Clyde seltsame Dinge vor sich gingen.

Forrester und Parker waren Fußspuren gefolgt und hatten die Bewohner in zahllosen Booten vorgefunden, die in der Nacht aufs Meer hinausliefen. Neugier hatte zuletzt Vorsicht überwunden und die beiden waren ebenfalls in ein kleines Motorboot gestiegen und auf die Inselgruppe The Brothers hinausgefahren, wo sich die Bewohner von Port Clyde versammelten und hinaus auf den offenen Atlantik starrten.

Forrester war das Blut in den Adern gefroren, als plötzlich eine gebückte Gestalt aus dem Meer kroch und seinen mit messerscharfen Zähnen bestückten Kiefer in den Hals einer jungen Frau verbiss. Der Schrei des Mädchens hatte das Geräusch der Brandung übertönt und das Blut in Forresters Adern gefrieren lassen. Es war jedoch Parker, der aus dem Boot sprang und auf das Mädchen zulief. Forrester folgte ihm und brachte die Bestie mit zwei gezielten Schüssen seiner Glock zu Fall. Die Fleischwunde am Hals des Mädchens blutete und die junge Frau verlor sofort das Bewusstsein, als Parker sie in seine Arme nahm und zurück zum Boot rannte. Zu Forresters Überraschung hinderten die Umstehenden die beiden nicht an der Flucht. Doch während der Überfahrt nach Port Clyde erkannte Forrester ihren fatalen Fehler. Das Mädchen hatte noch in Parkers Armen begonnen, sich zu verwandeln und senkte in einem unbeobachteten Moment seine Zähne in die Schulter des jungen Arztes. Nach einem kurzen Handgemenge mit dem mutierten Wesen konnte Forrester die Kreatur über Bord werfen. Mit schreckgeweiteten Augen bemerkte er Parkers blutende Wunde und sah das Entsetzen im Gesicht des jungen Mannes.

Zurück an Land stützte Parker sich schwer auf Forresters Schultern. Forrester hatte gerade die FBI-Zentrale von den Vorkommnissen auf Port Clyde unterrichtet, als er eine ganze Horde gebückter Kreaturen aus dem Wasser steigen sah. Parker schwer auf seiner Schulter lastend, hatte Forrester sich mit ihm im nächstgelegenen Gebäude verschanzt: einem schäbigen zwei-stöckigem Motel.

Hier endete also ihr Abenteuer. Forrester musste sich eingestehen, dass seine Hand zitterte, während er die Waffe auf die Gestalt richtete, die sich im gleißenden Scheinwerferlicht vor dem Fenster abzeichnete.

Das Geräusch des Militärhubschraubers war das letzte, das Forrester wahrnahm, ehe sich die Zähne der Kreatur in seinen Armen langsam in seinen Nacken bohrten.

Chris Redfield & Piers Nivans - Resident Evil 6

Monday, June 2, 2014

Ewigkeit

Das Haus war traumhaft schön. Meine Fingerspitzen glitten über die glatten, blendend weißen Wände. Ich genoss die Kühle darunter und stellte mir vor, dass dies das Gefühl sein musste, wenn man wusste: Hier bin ich zu Hause. Nicht in einem Zimmer in einem schäbigen Motel oder einem Jugendwohnheim, sondern tatsächlich in  einem eigenen Zuhause.

Ich durchschritt die modern eingerichteten Räume mit vorsichtigen Schritten, stets mit der Befürchtung die kostbaren Fußböden mit meinen alten Schuhen zu beschmutzen. Ich blickte nach unten und bemerkte, dass ich gar keine Schuhe oder Socken trug. Lediglich eine weiße Unterhose. Die selbe Unterhose, die mir Hank gestern Nacht leidenschaftlich vom Körper gerissen hatte.

Hank. Was für ein Glück ich hatte, einen Mann wie ihn getroffen zu haben.

Gutaussehend, offensichtlich wohlhabend und mit einer Menge versauter Ideen im Kopf.  Nie zuvor war ich so glücklich, wie in der kurzen Zeit, seit ich ihn kennengelernt hatte.

Ich hatte nie besonderes Glück mit Männern. Als arbeitsloser Jugendlicher in der Großstadt blieben mir viele Türen verschlossen. Gelegenheitsjobs brachten nicht viel ein und Geld von fremden Männern zu nehmen, mit denen man ab und zu das Bett teilte, schien mir schon damals eine inhaltslose Verschwendung meiner Jugend zu sein. Trotzdem bereute ich nichts. Um ehrlich zu sein wäre ich Hank gar nicht begegnet, hätte ich nicht das schnelle Geld gebraucht, das man auf diese Weise machen konnte.

Doch Hank war anders. Das wusste ich, als ich ihn das erste Mal sah. Er war keiner der verbitterten alten Kerle, die sich im Alltag gehen ließen und in Kauf nahmen, dass junge Kerle wie ich sie nur gegen Kohle verwöhnten. Er war ein Playboy. Blendend aussehend. Braungebrannte Haut, fitnesstudiogestylter Körper. Geschmackvolle Tätowierungen, die man durch sein hauchdünnes, weißes Hemd sehen konnte. Goldene Härchen auf der muskulösen Brust, die das tief geschnittene Hemd nur spärlich bedeckte. Er hätte an jenem Abend jeden in dieser heruntergekommenen Bar haben können. Doch er wollte mich.

Ich erinnere mich noch an seine dunklen Augen, die meinen schlanken Körper musterten. Ob er mir ansah, dass meine Klamotten viel zu eng anliegend waren? Ob er wusste, dass mir einfach das Geld fehlte um mir passende Sachen zu kaufen und ich immer noch die Sachen trug, die ich schon mit Fünfzehn getragen hatte?
Unsere Blicke trafen sich kurz und er winkte mich mit einem Kopfnicken zu sich. Der Rest ist Geschichte. Nein, eine unsagbar kitschige Romanze, die kein Ende zu nehmen schien - und auch nicht enden sollte.

Ich genoss jeden Moment mit Hank. Auch jetzt vermisste ich seine Nähe, seinen starken Körper, der sich an meinen presste. Fordernd, unnachgiebig. Ich genoss die absolute Unterwerfung, die Hank beim Sex forderte. War ich ein Masochist im Bett? Scheißegal wie man es nannte. Ich fand es einfach nur geil.

Ich liebte Hank so sehr, dass jeder Moment schmerzte, in dem er nicht bei mir war. Ich war nicht gewohnt, ohne ihn aufzuwachen, seine Arme nicht um mich zu fühlen.

Ich blieb im Badezimmer stehen und blickte in den Spiegel. Mein Bartschatten irritierte mich und meine Wangen schienen hohl und eingefallen zu sein. Ob ich Hank so gefiel? Ich sollte vielleicht etwas zunehmen. Apropos, erwartete Hank von mir, dass ich für ihn kochte? Ich schämte mich bei dem Gedanken, Hank käme hungrig nach Hause und ich hatte nichts für ihn vorbereitet. Sowas machte man doch in einer Beziehung, oder?

Nicht, dass ich damit Erfahrung hatte. Ebensowenig wie mit kochen. Egal, kochen konnte man lernen. Ich wusste ohnehin nicht was Hank gerne aß.

Ich öffnete den Spiegelschrank und suchte nach Schaum und einer frischen Rasierklinge. Ich war diese modernen Wegwerfdinger gewohnt, aber Hank schien eine altmodische Klappklinge zu benutzen. Ein alter Griff und etwas das aussah wie ein Schleifstein lagen neben der Dose mit Schaum, aber eine Klinge fand ich nicht. Ich durchsuchte den Schrank von oben bis unten, ohne Erfolg. Stattdessen fühlte ich mich seltsam schuldig. Hank hatte viele Medikamentenschachteln in diesem Schrank. Bestimmt war es ihm nicht recht, dass ich hier herumstöberte. Hank würde mir bald ohnehin eigene Rasiersachen besorgen.

Ein rasselndes Geräusch ließ mich hochfahren. Als hätte man mich bei etwas Verbotenem ertappt, ließ ich die Schranktür zufallen und trat hastig aus dem Badezimmer in den Gang. Das Geräusch kam von der Tür. Hanks Schlüssel schepperten beim Aufsperren gegen das Türblech.

Endlich war er wieder zu Hause. Ich wollte zur Eingangstür laufen, als ich plötzlich Stimmen hörte. Er war nicht allein.

"Geile Hütte, Alter." Die Stimme gehörte einem jungen Mann, der kaum älter als ich sein konnte.

"Danke. Willst du dich noch frischmachen oder gleich loslegen?" Hanks melodiöse Stimme versetzte mir einen regelrechten Schlag. Meine Brust schien sich zu einem schmerzhaften Knoten zu verformen. Ich drückte meinen Rücken gegen die Wand und schaute vorsichtig um die Ecke des Ganges. Was ging hier vor?

"Ich bin kurz im Bad, dann geht's los, Dad." Hank lachte über diesen Running Gag. Ich wusste, dass er gern so genannt werden wollte. Die ganze Vater-Sohn-Geschichte war ein geiles Rollenspiel im Bett.

"Um die Ecke und die erste Tür links. Aber beeil dich, Kleiner."

Ehe ich reagieren konnte, stand der Fremde plötzlich vor mir und fuhr erschrocken zusammen. Seine großen blauen Augen weiteten sich für einen Moment und ich schluckte kurz, als ich seine sandblonden, schulterlangen Haare und den trainierten Surferkörper sah, den er unter einer Short und einem Tanktop verbarg. Der Typ war all das, was ich nicht war.

"Scheiße, hast du mich erschreckt!" Er lachte in seine Hände und rief dann nach hinten in den Gang.

"Ich wusste gar nicht, dass du auf Dreier stehts, Dad."

Ich verstand die Welt nicht mehr. Ein kurzer Moment Stille, ehe Hank antwortete.

"Alles was du willst, Kleiner. Geiler Gedanke."

"Kostet aber extra."
Der blonde Junge lächelte mich verschmitzt an und ging ins Bad. Ich musste Hank zur Rede stellen. Wieso tat er mir das an? Er hatte nie erwähnt, dass ich ihm nicht genug war. Musste ich Hank von nun an mit diesem Fremden teilen? Würde auch er hier wohnen?

Ich schritt leise ins Schlafzimmer und erstarrte im Türrahmen. Hank war bereits bis zur Unterhose entkleidet und blickte mich mit hungrigen Augen an. Die Worte blieben mir im Hals stecken. Was erwartete er jetzt von mir?

Zögernd trat ich ins Zimmer und folgte Hanks Blick, nun auf den Jungen gerichtet, der durch die Tür schritt. Troy, so stand zumindest groß auf seinem Muskelshirt, leckte sich erregt die Lippen, als er Hanks Beule in seiner Unterhose erblickte, die mit jedem Moment größer wurde.

Seine Augen fielen auf mich und musterten meinen Körper ebenso gierig. Unter seinem Blick fühlte ich mich nackt und hilflos.

"Machst du mit oder schaust du nur zu?", fragte er schließlich.

Ich schüttelte den Kopf und trat einen Schritt zurück. Troy genügte dies als Antwort. Hank stöhnte etwas, das ich nicht verstand und packte Troy mit kräftigen Armen von hinten. Gebrochen verfolgte ich das hemmungslose Liebesspiel. Hank leckte Troys Hals und zog ihm hastig die Kleider vom Leib. Seine unruhigen Finger strichen von hinten über Troys muskulösem Bauch und fassten in seine Unterhose, wo Troy dem fordernden Griff mit kreisenden Bewegungen seiner Hüfte folgte. Hank biss Troy verspielt ins Genick und warf ihn nach vorne auf den Bauch, um ihn mit einer raschen Bewegung die Unterhose vom Becken zu ziehen.

Hank verschwendete, wie immer, keine Zeit und holte ein Fläschchen Gleitgel unter dem Bett hervor. Er träufelte etwas davon auf Troys Arsch und seinen eigenen Schwanz und drang ohne große Umschweife in ihn ein.

Troys Augen waren die ganze Zeit auf mich gerichtet. Er leckte sich einladend über die Lippen. Die Szenerie war unwirklich und bedrückend. Mir blieb nichts anders übrig, als Troys Blick stand zu halten.

Hank hatte auch mit mir kein Kondom benutzt. Aber ich dachte es wäre Liebe und gebe keine anderen Männer mehr. Womöglich sollte ich mich testen lassen...

Troys Stöhnen brachte mich zurück in die Gegenwart. Hank drang immer tiefer und rascher in ihn ein. Sein schwerer Atem verriet, dass er kurz davor war, in ihm zu kommen.

Das Zimmer verschwamm vor meinen Augen. Waren es Tränen, die mir den Blick trübten?

Das Licht, das durch das Fenster drang, schien plötzlich einen rötlichen Farbton anzunehmen. Ich blinzelte kurz, um die Sinnestäuschung abzuschütteln, doch das Zimmer blieb in sanftes Rot getaucht, das mit jedem Wimpernschlag dunkler zu werden schien.

Der Fußboden begann sich zu bewegen, als stünde ich auf fließender Lava, die sich unter dem Bett ihren Weg suchte. Ich stand mit bloßen Füßen auf der glühenden Masse, spürte jedoch keinen Schmerz. Auch die Wände beganngen zu fließen  und wurden eins mit den wabernden Formen unter mir.

Angst breitete sich in meiner Brust aus. Nicht die Angst vor den seltsamen Farben oder den surrealen Formen, die sich um mich bildeten. Meine Angst war greifbar, als stünde etwas Schreckliches bevor, das ich nicht verhindern konnte.

Immer noch waren Troys Augen auf mich gerichtet. Innerhalb eines Wimpernschlags sah ich mich selbst in diesen Augen. Sah, wie ich am Bett lag, Hank schwer atmend auf meinem Rücken, sein heißer Samen tief in mir, als er sich hinter mir aufbäumte und mich vom Bett riss. Ich sah damals seine Hand nicht, die in der Seite der Matratze verschwand.

Sah das blitzende Metall nicht, das er hervorholte.

Mir blieb die Luft weg. Die schwelende Hitze um mich war unerträglich. Plötzlich stand ich wieder vor Troy und seinen durchdringenden Augen. Sah, wie Hank sich aufbäumte und in ihm kam. Sah, wie er mit einem Arm unter Troys Bauch griff, um ihn von hinten in eine knieende Position zu ziehen. Sah, wie Hanks Hand unter der Matratze verschwand und die altmodische Rasierklinge hervorzog, die er mit geübten Fingern aufklappte.

Troys Augen waren schwer. Er kam mit einem kehligen Laut und verteilte seinen Samen auf dem weißen Bettlaken. Die Luft im Zimmer schien zu kochen. Ich sah die beiden Männer vor mir als blickte ich durch Feuer. Ihre Formen verschwammen ständig und flackerten umher.

Hank hob seine Hand an Troys Hals und positionierte die Klinge beinahe sanft an seiner Halsschlagader, während Troy im Nachbeben seines Orgasmus mit geschlossenen Augen auf die Berührung seines Liebhabers wartete.

Es dauerte nur den Bruchteil einer Sekunde um meine Entscheidung zu fällen. Die lodernden Farben erstarben und der Raum erkaltete. Alles war plötzlich klar vor meinen Augen.

Ich trat einen Schritt nach vor und berührte Hanks Schulter mit meiner Handfläche. Er zuckte unter meiner Berührung zusammen, als hätte ich ihn mit einem glühenden Eisen gebrandmarkt. Seine Hand zitterte und die Klinge entglitt seinem Griff, gerade als er sie sanft durch Troys Fleisch zog. Meine Augen weiteten sich vor Entsetzen. Blut war auf dem Laken. Überall Blut.

Mein Blut...

"Scheiße, du hast mich geschnitten. Bist du verrückt, du Arschoch?"

Troy hielt sich seine Handfläche an seinen Hals und starrte entsetzt auf das Blut, das langsam seine Brust hinabfloss. Geistesgegenwärtig versetzte er Hank einen Schlag mit seinem Ellbogen und befreite sich aus seinem Griff. Hank fasste sich verwirrt an die Schulter, wo meine Berührung eine seltsame Rötung hinterlassen hatte und griff erneut nach der Klinge, die auf das Laken gefallen war. Troy rappelte sich auf und fischte nach seiner Hose.

"Komm her, Kleiner. Beenden wir, was wir angefangen haben." Hanks Stimme klang kalt und hohl.

Ich schämte mich. Schämte mich, so tiefe Gefühle für einen Mann wie ihn gehabt zu haben. Troys hilfloser Blick fiel wieder auf mich. Diesmal deutete ich zur Eingangstür.

"Lauf."
Der blasse Junge, blutend und verletzt, aber noch immer Herr seiner Sinne, sprang zur Tür und machte sich an den Sicherheitsschlössern zu schaffen, die Hank alle versperrt hatte. Die er immer versperrt hielt.

Ich erblickte den Wahnsinn in Hanks Augen, als er aufsprang und auf den Jungen zustürzte.

Meine Entscheidung hatte ich jedoch längst gefällt. Nie wieder würde ich zulassen, dass Hank sich an jemand anderem vergriff. Hank gehörte mir. Das hatte er mir versprochen. Es war an der Zeit, sein Versprechen einzulösen.

Er sprang aus dem Bett, im selben Moment, als ich das Bettlaken um seinen Knöchel wickelte. Stolperte. Verlor den Halt. Ich sah die Klinge  zu Boden fallen und folgte seinem schönen Körper in Zeitlupe, als er zu Boden ging. Ich stützte meine Hand auf einer schönen hölzernen Kommode ab und beobachtete Hanks Kopf, der immer näher an die scharfe Kante kam. Ich schloss kurz die Augen und blendete das unangenehme Geräusch aus, das Hanks Stirn beim Zusammenstoß mit dem Schrank erzeugte.

Als ich sie wieder öffnete sah ich die offene Eingangstür und die Blutspur des Jungen, die nach draußen führte. Sah Hank vor mir am Boden liegen, eine rote Pfütze unter sich, die sich immer weiter ausbreitete.

Armer Hank. Armer, verwirrter Hank. Was immer dich zu einem Monster gemacht hat, ist jetzt Vergangenheit. Nun bist du bei mir - für immer.

Ich strich sanft über seine nackte Schulter und hob seinen Körper leicht an. Er drehte seinen Kopf zu mir und blickte mich mit großen ungläubigen Augen an. Er war ein schöner Mann. Selbst die hässliche Wunde an seiner Stirn konnte daran nichts ändern.

Seine Augen starrten nach unten, Grauen verformte seine schönen Gesichtszüge. Ich konnte seine Gefühle nicht verstehen. Ich war bereits Teil einer anderen Welt, in der es mir nicht weiter seltsam erschien, dass Hanks lebloser Körper noch immer am Boden lag, obwohl ich ihn im selben Moment in meinen Armen hielt.

Er versuchte sich aus meinen Armen zu befreien und blickte entsetzt um sich. Unsere Füße verloren ihren Halt. Wir sanken immer tiefer nach unten. Ich küsste seinen Nacken und sein Gesicht, während Hanks Augen fassungslos unsere Umgebung abtasteten. Was mochte ihn wohl irritieren? Ein kurzer Blick verriet mir, dass wir nun im Keller seines schönen Hauses waren. Ein Schwarm Fliegen stob auf, als wir uns auf den Boden legten, um unser Liebesspiel fortzusetzen. Hank erblickte die halbverrottete Leiche meines Körpers in der Ecke als sähe er sie jetzt zum ersten Mal.

Ich beachtete sie nicht weiter. Ich hatte ja Hank. Mehr wollte ich nicht und mehr erwartete ich auch nicht. Hank begann lautlos zu schreien und wehrte sich gegen die Hände, die aus dem Erdreich nach oben griffen, um ihn und mich nach unten zu ziehen.

Himmel und Hölle? Gab es das wirklich? War es für mich das selbe wie für Hank? Ich konnte mir nichts Schöneres vorstellen, als mit dem Mann meiner Träume für immer vereint zu sein. Zärtlich strich ich über seinen Rücken und versank mit ihm in der kühlen Erde. Seite an Seite in inniger Umarmung. Für immer.


© Copyright 2014, Jiroh Windwalker
Alle Rechte vorbehalten.

Thursday, May 15, 2014

Relikt

Das Gebäude in Greenpoint war alt. Die Fassade bröckelte und brachte Ziegelsteine und Mörtel zum Vorschein. Baumaterialien, die seit Jahrhunderten nicht mehr verwendet wurden. Ilan lächelte über die Ironie, dass in diesem Gebäude nun ein Nostalgie-Museum untergebracht war.
Er stieg aus dem Fahrzeug, das er und sein Begleiter, der fünfzehnjährige Dorian, mit einer Gruppe Technikern teilten, die ebenfalls in diesem Stadtteil zu tun hatten.
Er öffnete den Regenschirm, um sich und den Jungen vor dem strömenden Regen zu schützen. Sie trugen Mützen auf ihren kahlen Köpfe, doch die Kälte war schneidend. Ilan, der selbst keine Kälte empfinden konnte, verstand das Konzept von Schmerz und beeilte sich, den Eingang des Hauses rasch zu erreichen.
Dorian blieb dicht auf Ilans Fersen. Seine Augen blickten nervös umher. Dieser Teil der Stadt erweckte in den meisten Menschen Ehrfurcht, die gelegentlich in Angst umschlagen konnte. Frequentiert von zwielichtigen Gestalten eilte dem Norden Brooklyns seit Jahrhunderten der Ruf eines Schmelztiegels von Arbeitern und Immigranten voraus, die nicht selten unlauteren Machenschaften in den dunklen Ecken der Stadt nachgingen.
Aber Dorian hatte darauf bestanden das alte Museum zu besichtigen, das, seit vielen Jahren halb in Vergessenheit geraten, hier langsam zu Staub zerfiel.
Der Eintrittspreis war lächerlich gering. Der Mann an der Kassa betrachtete Dorians Magnetkarte mit gerümpfter Nase. Ilan hatte vorausschauend einige Münzen in seine Tasche gepackt. Er überreichte sie dem Jungen, damit Dorian das Ticket bezahlen konnte.
Dorian schien fasziniert von der beeindruckenden Sammlung von Gegenständen aus früheren Zeiten. In der Nähe des Eingangsbereichs befanden sich Dinge aus dem Leben der Menschen vor über 400 Jahren: Kaffeemühlen, Waschmaschinen, Bügeleisen, Telefone mit langen Kabeln und Leuchtmittel aus Glas mit glühenden Drähten, die mehr Wärme als Licht abzugeben schienen. Die Räume änderten sich langsam und brachten neuere Geräte zum Vorschein: Bildschirme, mit denen die Menschen bewegte Bilder konsumierten, lange bevor implantierte Nervenschnittstellen aufkamen, um Unterhaltungsmedien im Kopf ohne weitere technische Hilfsmittel zu genießen.
Ilan rief alle Daten zu den gezeigten Exponaten aus dem Internet ab, auf das er in diesem abgelegenen Teil der Stadt nur sporadisch zugreifen konnte.
Er belächelte Dorian, der nach einem klobigen Mobiltelefon greifen wollte, und zurückschreckte, als er das "Nicht berühren"-Schild vor sich sah.
Ilans Interesse wurde im nächsten Raum geweckt, der Exponate aus der Periode des Großen Krieges zeigte, der die menschliche Gesellschaft vor 150 Jahren grundlegend umstrukturiert hatte und zur flächendeckenden Nutzung genetischer Modifikationen bei menschlichen Embryonen geführt hatte. Der Sieg der Befürworter der Gentechnik hatte den Durchbruch des modernen Menschen nach sich gezogen, der weitgehend frei von Krankheiten lebte und ein Alter von über 120 Jahren erreichen konnte. Die hohe Resistenz gegen Umwelteinflüsse hatte jedoch dazu geführt, dass die Augen der Menschen größer wurden, die Haut dünkler und Körperbehaarung fast vollständig verschwand. Mit diesen Entwicklungen hatten sich auch die Schönheitsideale der Menschen vollständig gewandelt. Menschen mit dem Aussehen, das ihnen Jahrtausende der Evolution gegeben hatte, verschwanden allmählich völlig und wurden durch Menschen ersetzt, die einander wie eineiige Zwillinge glichen.
Ilan lachte über die Karikatur eines Außerirdischen aus einem Magazin, das in einem der Glastresen lag. Das nackte Wesen mit dem eiförmigen Kopf und den insektenartigen Augen erinnerte ihn eher an die heutigen Menschen als an einen der extraterrestrischen Vielzeller, welche die ESA in den letzten Jahren in einem benachbarten Sonnensystem entdeckt hatte.
Ilan wandte sich Dorian zu. Der Junge hatte einen aufgeregten Laut der Überraschung von sich gegeben und stand gebannt vor einer gekrümmten Gestalt. Ilan musterte den menschenförmigen Roboter, der auf einem Sessel saß und leblos vor sich hinstarrte. Das mechanische Skelett, das sich unter einer gummiähnlichen Haut befand war an einigen Stellen beschädigt. Die letzte Bewegung der Gliedmaßen war in einem unnatürlichen Winkel eingefroren. Am Interessantesten daran war jedoch die Tatsache, dass der Android aussah wie ein Mensch der Vorkriegszeit, mit schwarzen Haaren, Augenbrauen, braunen Augen und einem dunklen Bartschatten auf seinem Gesicht, das an einigen Stellen beschädigt war und Blick auf die innen liegenden Motoren und Platinen bot.
"Wie heißt du?", fragte Dorian. Der Android reagierte nicht. Er war ebenso leblos wie alle Geräte um ihn herum.
"Er ist nicht aktiviert", stellte Ilan fest. Der Junge presste die Lippen aufeinander.
"Dann aktiviere ihn." Ilan kannte den sturen Blick des Jungen nur zu gut.
"Er ist beschädigt. Er würde nicht funktionieren."
"Versuche ihn zu reparieren. Ich befehle es dir."
Ilan verdrehte die Augen. Es war sinnlos mit Dorian zu diskutieren, wenn er sich etwas in den Kopf gesetzt hatte.
Ilan fand keine Überwachungskameras im Raum und vergewisserte sich, dass keine anderen Besucher oder Wächter in der Nähe waren, ehe er die Hand des Androiden ergriff und die Nanosonden, die seinen Unterarm bildeten, löste und ins Innere des beschädigten Roboters sandte.
Ilan registrierte die Daten der winzigen Sonden und wies die Bots an, alle schwerwiegenden Schäden zu beheben. Die Nanosonden begannen, fehlende Materialien zu replizieren und vervollständigten beschädigte Komponenten im Körper des Androiden. Dorians Augen weiteten sich, als die Risse im Gesicht des Androiden langsam verschwanden.
Ilans Nanosonden verblieben im Kopf des Androiden und begannen, die altmodischen Systeme mit Energie zu speisen. Das Hochfahren des Betriebssystems dauerte einige Minuten, doch dann begann der Android zu blinzeln und richtete sich auf.
Dorian trat einen Schritt zurück, während Ilan den Arm des Maschinenmenschen ergriff, um ihn am Umkippen zu hindern. Die Gleichgewichtssensoren arbeiteten definitiv noch nicht einwandfrei.
Der Android starrte vor sich hin und schien auf eine Eingabe zu warten.
"Warum siehst du so seltsam aus?" Dorians Stimme zog die Aufmerksamkeit des Androiden auf sich und er wandte sich dem Jungen zu. Ilans Griff blieb fest auf seinem Unterarm verankert.
Der Maschinenmensch starrte ihn ausdruckslos an. Ilan scannte die Prozesse in der Hauptplatine des Androiden, wurde jedoch aus den von den Nanosonden übermittelten Daten nicht schlau.
Der erwachte Android vollzog eine halbe Drehung seines Oberkörpers und zückte plötzlich ein langes Kampfmesser aus einer Scheide, die er im Inneren seiner Hose trug. Ilan ahnte, dass es sich bei dem Wesen vermutlich um einen Soldaten handelte.
Die Klinge durchtrennte Ilans Arm und befreite den Androiden aus seiner starren Umarmung. Dorians Augen weiteten sich, als die menschenähnliche Maschine auf ihn zu schritt und mit dem Messer ausholte.
Ilans Geist verband sich innerhalb weniger Mikrosekunden mit den Nanosonden in seinem abgetrennten Unterarm. Der Arm zerfiel auf dem Betonfußboden zu Staub und eine Wolke mikroskopischer Nanobots erhob sich hinter dem Androiden.
"Warum attackierst du uns?", rief Ilan, um die Aufmerksamkeit des Angreifers von seinem Schützling abzulenken.
Ohnen den Blick von Dorian zu wenden, antwortete der Android: "Genetisch modifizierte Organismen müssen neutralisiert werden."
Die Nanobotwolke legte sich über das Gesicht des Androiden und überzog seine Augen mit einer undurchdringlichen Schicht aus flüssigem Metall.
Ilan nutze die kurze Verzögerung und reorganisierte die Nanosonden seines Körpers, um sein Aussehen zu verändern. Dorian beobachtete seine Verwandlung mit entsetztem Gesichtsausdruck.
Ilans Körper verflüssigte sich für wenige Sekunden, ehe daraus ein Mensch entstand, mit kurzen braunen Haaren, blauen Augen, einer markanten Nase und heller Haut. Ilan war nun nackt und um einen Kopf kleiner als zuvor, aber er baute sich vor dem Androiden auf, der die Legierung von seinen Augen riss und das Messer erneut zum Angriff hob.
"Halt! Leg das Messer weg!"
Ilan erkannte in den Augen des Androiden, dass er ihn als Menschen seiner Zeit erkannte.
"Ich habe den Befehl genetisch modifizierte Wesen zu neutralisieren."
"Ich gebe dir nun einen neuen Befehl: Leg das Messer weg!" Ilan hielt seine Handflächen hoch. Ein Signal der Beschwichtigung.
"Ich bin nicht autorisiert, meine Befehlsprogrammierung zu ändern." Der Android ging auf Dorian zu. Ilan trat dazwischen und bohrte seine Finger in den Brustkorb des Androiden.
"Dann bin ich gezwungen dich zu deaktivieren."
Ilan nahm Kontakt mit den Nanosonden im Körper des Androiden auf und rief sie zurück. Innerhalb einer Sekunge erlosch das Licht in den Augen des Androiden und er fiel kraftlos in Ilans Arme.
Dorian trat näher und strich über das weiche Haar des Roboters.
"Ich möchte ihn studieren. Wir nehmen ihn mit."
Dorians Stimme ließ keine Diskussion zu. Ilans Körper formte sich zurück in seine ursprüngliche Form und er hob den kleineren Körper des Androiden in seine Arme.
"Aber beschwer' dich nicht, wenn ich dir später sage ich hätte dich ja gewarnt." Ilan überlegte, wie er dem Besitzer des Museums klar machen sollte, dass sie mit einem seiner Exponate verschwanden. Vermutlich würde Dorians Magnetkarte ausreichen, um den Mann zu überzeugen.
 "Wieso ist er so feindselig mir gegenüber?", frage Dorian.
"Er sieht in dir den Feind, den er programmiert wurde zu bekämpfen."
"Würdest du mich ebenfalls bekämpfen, wenn dich jemand dazu programmiert?"
Ilan rollte die Augen.
"Zwischen ihm und mir liegen 200 Jahre technologischer Entwicklung. Aber wenn du mich so fragst: vermutlich ja."
"Ich möchte wissen, was er uns über früher erzählen kann."
Am Eingang zückte Dorian seine Magnetkarte und deutete auf den Androiden in Ilans Armen. Der Museumsbesitzer betrachtete die Karte und schüttelte den Kopf.
"Ich bin kein Verkäufer. Aber ich bin ein Händler. Dieser Roboter ist ein Militärandroid der Evolutionsfraktion. Sie können ihn haben, wenn er dafür hier bleibt." Er deutete auf Ilan.
Ilan lachte kurz auf.
"Was wollen Sie mit einem Service-Bot wie mir? Meine Nanosonden gibt es an jeder Ecke zu kaufen. Ich wäre kaum interessant für Ihr Museum."
Die Augen des Mannes verengten sich zu schmalen Schlitzen.
"Die alltäglichen Dinge von heute sind die Exponate von morgen", antwortete er kryptisch.
Dorian und Ilans Augen trafen sich. Der Junge schien seine Entscheidung bereits gefällt zu haben.
Gemeinsam kehrten sie in den Ausstellungsraum zurück. Ilan setzte sich verärgert auf den einsamen Stuhl an der Wand des Museums. Dorian nickte ihm kurz zu und verließ den Raum.
Der Museumsbesitzer half Dorian, den Androiden in einen Transporter in Richtung Innenstadt zu hieven. Nachdem beide darin Platz genommen hatten, fuhr das Fahrzeug los und ließ Greenpoint hinter sich.
Dorian betrachtete das Profil des Militärandroiden und berührte erneut sein Haar. Seine Hand zuckte nicht zurück, als sich die Augen der Maschine plötzlich öffneten und sein Kopf sich ihm zuwandte.
"Dafür schuldest du mir was."
Dorian lächelte.
"Wir haben ein gutes Geschäft gemacht.", stellte der Junge fest und steckte seine unbenutzte Magnetkarte zurück in seine Jacke.
"Wenn du meinst. Ich fühle mich nicht wohl inmitten dieser verrosteten Platinen. Und meine Nanosonden werden nun in diesem alten Schuppen verrotten." Ilan fasste sich an den Kopf. Die Steuerung des fremden Körpers schien ihn zu fordern.
"Kannst du auf seinen Speicher zugreifen?"
Ilan schloss kurz die Augen.
"Sein Speicher ist kodiert. Ich werde versuchen auf ihn zu zugreifen, aber erst sollten wir nach Hause fahren."
Ilan atmete tief durch.
"Ich weiß gar nicht was die Menschen früher an diesen klobigen Geräten fanden."
In der Park Avenue verließen Dorian und Ilan das Fahrzeug. Ilan stolperte leicht und Dorian stütze ihn.
Wenige Minuten später öffnete sich die Tür zur Wohnung von Dorians Eltern. Ilan stütze sich an der Wand ab.
Der Junge schreckte hoch, als Ilan plötzlich nach seinem Arm griff und ihn herumwirbelte. Die Hand des Androiden schloss sich um seinen Hals.
Zu spät erkannte Dorian die Gefahr in die er sich begeben hatte. Er sah Sterne vor seinen Augen, als der Android seine Hand immer fester an Dorians Kehle drückte.
"Warum?", keuchte der Junge.
"Genetisch modifizierte Organismen müssen neutralisiert werden."
Dorians letzten Worte verhallten ungehört im Foyer des Apartments.
"Ilan..."

Sunday, April 20, 2014

Anfänge

Die Schatten des Nebelwaldes legen sich schwer auf die Seelen unerfahrener Wanderer. Denkt daran: es gibt nur einen Pfad in den Wald – und keinen nach draußen.

Jiroh ignorierte die blasse Warnung der Älteren. Die Kinder des Dorfes schlichen sich gerne  in den nahegelegenen Wald des Südhanges, um  die heißen Mittagsstunden  im Schatten der knorrigen, moosbewachsenen Bäume zu verbringen.  Die Erfahrung hatte sie gelehrt, dass der Weg hinein recht einfach auch wieder nach draußen führte. Weder bewegten sich die Bäume, noch verschwand der Pfad auf geheimnisvolle Weise unter ihren Füßen.  Jiroh war mittlerweile alt genug, um zu wissen, dass der Wald von den Jägern des Dorfes aufgesucht wurde, die es nicht gerne sahen, wenn lärmende Kinder ihre Beute kurz vor dem tödlichen Speerwurf aufschreckten. Es gab keine Geheimnisse oder Schreckgespenster hier, egal was die Älteren über den Wald sagen mochten.

„Jiroh. Sieh mal.“ Der pausbackige Junge, dessen Sommersprossen im von Blättern gefilterten Sonnenlicht  mit seinen feuerroten Haaren um die Wette leuchteten, deutete über den von zahlreichen Bäumen bewachsenen Felsvorsprung.  „Da unten ist jemand.“

Sein Spielgefährte ließ langsam den Ast sinken, den er von einem umgestürzten Baum abreißen wollte und sank auf die Knie. Jirohs Augen,  im Halblicht mehr schwarz als kastanienbraun, funkelten aufgeregt.

„Sind es Maraner?“ Aran rollte die Augen. Jiroh hoffte ständig, eines Tages Spähern  des benachbarten Bergvolkes zu begegnen, die angeblich manchmal in diesen Wäldern unterwegs waren. Mehr als einmal hatten die Älteren den Jungen schon wegen seiner übermäßigen Neugier zurechtgewiesen. Aran vermutete, dass dies Jirohs eigentlicher Grund für die heimlichen Besuche im Nebelwald war. Falls sie tatsächlich eines Tages Menschen von Maran über den Weg laufen sollten, würde Aran als erster das Weite suchen – und Jiroh vermutlich gegen dessen Willen mit sich schleifen.

Er deutete auf die geduckt gehende Figur unterhalb des Felsens. Ein Mann mit einem Speer, der von Spähern und Jägern gleichermaßen getragen wurde, bückte sich nach unten und hob einen Stein vom feuchten Waldboden. Er betrachtete den grauen Brocken konzentriert. Jiroh und Aran zuckten zusammen, als etwas weiter weg ein Rascheln zu hören war, dem der Mann sich zu wendete und nun in ihre Richtung sah.  Er hob seinen Speer und schlich leise ins Unterholz, wodurch er aus dem Blickfeld der Jungen verschwand.

„Das ist doch einer aus unserem Dorf, oder?“ Aran hauchte die Worte mehr als dass er sie sprach. Jiroh hatte ihn trotzdem verstanden und nickte. 

„Ein Späher.  Einer von denen, die nur selten ins Dorf kommen.“ Aran zog die Mundwinkel anerkennend nach unten.

„Dann sollten wir ihm besser nicht über den Weg laufen. Über die Sorte habe ich schon einige unheimliche Geschichten gehört.“  Aran begann sich langsam vom Felsvorsprung zurück zu ziehen, doch Jiroh machte keine Anstalten ihm zu folgen.

„Aber bestimmt nicht so viele, wie er gehört hat. Wir sollten mit ihm reden. Komm mit!“ Jiroh kletterte den Felsen auf der weniger steil abfallenden Seite nach unten. Sein bester Freund schickte ihm ein gehauchtes „Spinnst du?!“ mit auf den Weg und duckte sich stattdessen noch tiefer auf der bewachsenen Felsoberkante.

Am Fuß des Felsens sah der drahtige Junge sich um. Der Wanderer war im Dickicht verschwunden. Jiroh, der bereits einige Tage mit den Jägern verbracht hatte, um einen ersten Eindruck von deren Handwerk zu bekommen, versuchte die Spuren im Waldboden zu lesen. Tatsächlich konnte er ein Paar menschlicher Fußabdrücke ausmachen, die jedoch plötzlich verschwanden. Der Junge schob vorsichtig die Äste des dichten Gebüschs zur Seite und zwängte sich zwischen den nach oben drängenden Jungtrieben hindurch.  Der Wald öffnete sich vor ihm zu einer lichtdurchflutenden Lichtung, die an einer Seite von einem tiefen Abgrund begrenzt war. Jiroh kannte den Ort. Am Fuß der schmalen Schlucht befand sich ein tiefer See mit pechschwarzem Wasser, der von keiner Seite direkt zugänglich war. Jiroh und seine Freunde hatten gelegentlich Kadaver unglücklicher Tiere darin treiben sehen, die versehentlich den einzigen Weg in den See genommen hatten: Sie waren vom Rand der felsigen Spalte gestürzt.

Jiroh trat einen Schritt zurück. Die Kante des Abgrunds war moosbewachsen und glitschig und er hatte wenig Lust, Bekanntschaft mit dem fauligen See zu machen.    Ein leises Zischen lenkte ihn plötzlich ab. Jiroh drehte den Kopf der Felswand zu, die seitlich der Lichtung über den Abgrund thronte und fand sich Auge in Auge mit einer riesigen, schwarz glänzenden Wildkatze wieder. Das leise Zischen wandelte sich zu einem kehligen Fauchen, als das Tier ihn mit gelb leuchtenden Augen fixierte und zum Sprung ansetzte. Jiroh erstarrte. Fühlten sich so die letzten Momente im Leben eines Menschen an? Keine Abfolge von Bildern, die an einem vorbeizog? Keine wilden  Fluchtgedanken im Angesicht einer tödlichen Bestie? Jiroh ballte die Fäuste und tat das einzige, das ihm in den Sinn kam. Er schrie die Katze an und lief ihr mit drohend ausgestreckten Armen entgegen.

Das Biest reagierte unbeeindruckt und beantwortete Jirohs Angriff mit einem Fletschen seiner Zähne, ehe es eine geschmeidige Bewegung vollzog und auf Jiroh zu sprang. Doch es war nicht die Katze, die Jiroh von den Füßen riss. Menschliche Hände zogen den Jungen zu Boden und ein Körper rollte sich mit ihm über das weiche Gras der Lichtung. Die Raubkatze war ins Leere gesprungen und wirbelte wütend herum. Sie fixierte erneut ihre Beute, die sich mit einem Mal verdoppelt hatte. Der Späher war bereits wieder auf den Beinen und riss Jiroh gewaltsam am Kragen hoch.

„Lauf.“ Seine Stimme war unerwartet ruhig. Jirohs Blick wechselte von der Katze zu seinem Retter und wieder zurück. Wohin sollte er laufen? Der Fels war ein geradezu lächerlicher Zufluchtsort, wenn man vor einer Wildkatze Schutz suchte und zwischen ihnen und dem Dickicht wartete das schwarze Biest darauf, seine Zähne in ihr Fleisch zu schlagen. Ehe Jiroh eine Entscheidung treffen konnte hatte die Katze ihre muskulösen Beine in Bewegung gesetzt und sprang auf die beiden zu. Der Späher packte Jiroh erneut an der Schulter und stieß ihn mit kräftigen Armen in Richtung des Abgrundes. Der Junge bemerkte einen Strauch, der unterhalb der Kante wuchs, und glitt über den rutschigen Felsen nach unten, wo seine Hände Halt an den kräftigen Ästen fanden, während seine Beine in der Luft baumelten. Seine vor Furcht geweiteten Augen nahmen die Bewegungen des Spähers wahr, der in einem Satz auf die Felswand sprang und sich im selben Moment davon abstieß, als ihn die Katze fast erreicht hatte. In einer schier unglaublichen Bewegung drehte sich der Mann in der Luft und wich dem ins Leere schnappende Maul des Tieres aus, während er gleichzeitig ein großes Messer in den Rücken der Bestie rammte.

Ein markerschütternder Schrei durchschnitt den Wald und scheuchte zahlreiche Vögel in die Luft. Die Katze, nun rasend vor Wut und Schmerz,  drehte sich dem wendigen Mann zu und brüllte ihn mit geiferndem Maul  an, während sie erneut zum Sprung ansetzte. Der Späher drehte sich um und lief auf den Abgrund zu. Die Wildkatze sah ihre Chance und stürzte ihm mit großen Schritten hinterher. Ihre riesigen Krallen  fanden sein Lederhemd im selben Moment, als er über die Kante sprang und versuchte, eine in der Luft hängende Liane zu ergreifen.  Die Katze, blind vor Schmerz, stürzte ohne Rücksicht auf die Schlucht hinterher. Seine Hände fanden die Schlingpflanze und er hielt sich mit aller Kraft daran fest, während das Gewicht der Katze, ihre Krallen tief in seinen Rücken versunken, ihn nach unten zog und einen tiefen Schnitt in sein Fleisch riss. In einer geistesgegenwärtigen Bewegung schwang er seine Beine nach oben und  hakte sie in der Liane ein, sodass sich die gebogene Kralle endlich aus seinem Fleisch löste und die Bestie haltlos in die Tiefe stürzte, wo sie mit einem lauten Klatschen im schwarzen Wasser verschwand.

Jiroh beobachtete den Fall und die verzweifelten Versuche der Katze, sich auf den glatten Felsen hochzuziehen, die das tiefe Wasser begrenzten. Doch ihre Verletzung war schwer und ihre Versuche verloren zunehmend an Kraft, bis sie sich schließlich nicht mehr an der Oberfläche halten konnte und im dunklen Wasser verschwand.  Seine Augen verfolgten die letzten Luftbläschen auf dem Wasser, ehe er seinen Blick hob und den schwer verletzten Späher beobachtete, der die Liane langsam entlang kletterte, um dem tödlichen Abgrund zu entkommen. Jiroh versuchte sich ebenfalls hochzuziehen, aber seine Beine fanden auf dem Fels keinen Halt und zu seinem Entsetzen spürte er seine Hände schwächer werden, die sich bisher eisern um die Äste des Strauches geschlossen hatten. Er wagte es nicht, eine Hand zu lösen, um weiter oben Halt zu suchen. Wenn der Fremde es nicht schaffte sich auf die Lichtung zu retten, wäre auch Jiroh verloren. Er blickte verzweifelt nach unten, wo der Abgrund vor seinen Augen verschwamm und die Welt sich zu drehen begann. Panik stieg in ihm auf. Gerade als seine Finger sich gegen seinen Willen öffneten, spürte er eine Hand, die sich um seinen Arm schloss.

„Da bist du ja! Verdammt, ich hatte Todesangst!“ Aran zog ihn mit all seiner Kraft nach oben und zerrte ihn über die mit schleimigen Algen überwachsene Kante des Abgrunds. „Ich dachte die Katze hätte dich gefressen! Der Kampf klang als hätte sie dir die Haut bei lebendigem Leib abgezogen. Wie hast du das bloß überlebt, du sturer Dummkopf?!“ Jiroh lag schwer atmend auf dem Rücken und betrachtete seine abgeschürften, zitternden Hände.

„Der Fremde… er hat die Katze getötet.“ Die Welt war mit einem Mal wieder klar vor Jirohs Augen. Wo war der Späher? Er rollte zur Seite und sah sich um. Eine bleiche Hand lag am Rand der Schlucht auf der gegenüberliegenden Seite der Lichtung und es dauerte einen Moment, ehe Jiroh realisierte, dass der Körper des Mannes unterhalb des Felsvorsprunges hängen musste. Jiroh sprang auf und rannte über das weiche Gras. Die Hand des Mannes hatte ein Büschel Gras umschlossen, das seinen Absturz verzögerte. Die beiden Jungen packten den Arm des Fremden und zogen ihn gemeinsam auf die Lichtung. Aran wich mit einem Aufschrei zurück. Der Rücken des Fremden lag in Fetzen und  das  Blut lief in Strömen über seine Beine. Der Späher blickte Jiroh mit müden Augen an, die sich erschöpft schlossen, als er auf dem weichen Gras lag.

Jiroh und Aran wechselten hilflose Blicke.

„Wir müssen ihn ins Dorf bringen!“ Jiroh griff unter die Arme des Mannes, um ihn hochzuziehen.

„Darf man ihn überhaupt bewegen? Sieh dir mal diese riesige Wunde an!“ Die Panik in Arans Stimme verunsicherte Jiroh. Wenn sie ihn hier liegen ließen um Hilfe zu holen, wäre er ein leichtes Fressen für die zahlreichen anderen Raubtiere  des Nebelwaldes. Nicht alle Warnungen der Älteren waren an Jiroh ungehört vorbeigegangen.  Er schloss kurz die Augen und konzentrierte sich.  Wenige Meter entfernt lag das blutige Messer, das der Späher der Katze während seines todesmutigen Sprunges in den Rücken gerammt hatte. Sie hatte es offenbar abgeschüttelt.  Sein Blick wanderte zum Dickicht, das aus zahlreichen, glatten  nach oben strebenden Ästen bestand.

„Hol das Messer und zerschneide sein Lederhemd. Dann nimm meine und deine Jacken. Ich hole zwei starke Äste. Wir bauen eine Bahre und tragen ihn zurück ins Dorf.“

Mit zitternden Händen ging Aran ans Werk. Das Hemd des Mannes war jedoch nur noch ein grober Fetzen, den Aran vorsichtig unter seinem Körper hervorzog. Jiroh brachte zwei Äste, die stark, aber doch leicht genug waren, um als Bahre zu dienen. Die beiden Jungen banden die Äste mit ihren Jacken und dem Leder des Spähers zu einer notdürftigen Bahre zusammen. Vorsichtig hoben sie den Mann an und legten ihn mit dem Rücken nach oben auf die Tragefläche. Die Rückkehr ins Dorf gestaltete sich schwierig. Der unebene Boden des Waldes, die zahlreichen Bäume und Sträucher, die für zwei Jungen unter normalen Bedingungen keinerlei Hindernis darstellten, wurden mit ihrer Last zu fast unüberwindbaren Hürden. Schweißgebadet erreichten sie endlich den Waldrand und Jiroh rannte so schnell ihn seine Beine trugen zum nächstgelegenen Haus des Dorfes.  Wenige Minuten später befand sich der Verletzte bereits in der Obhut des Heilers und der Vorsitzende des Ältestenrates winkte die aufgelösten Jungen auf dem Dorfplatz zu sich. Seine Augen funkelten aufgebracht und die beiden senkten eingeschüchtert ihre Köpfe.

„Jiroh und Aran. Ihr habt gegen unseren Rat den Nebelwald betreten und euch damit in große Gefahr gebracht. Seid ihr euch dessen bewusst?“ Der alte Mann hob tadelnd seinen Zeigefinger. Die beiden Jungen blickten beschämt zu Boden.

„Ihr habt jedoch sehr mutig gehandelt und Moru zu uns zurück gebracht. Darum sei euch euer Fehler verziehen.“ Der Alte trat näher und tätschelte Arans Wange. Der Junge schreckte kurz zurück, begann dann jedoch zu lächeln.  Der Mann wandte sich ab, doch Jiroh hielt seine Hand fest.
„Moru ist ein Späher, nicht wahr? Was hat er im Wald gesucht?“  Jiroh hielt dem strengen Blick des Alten stand.

„Die Antwort auf diese Frage hast du am eigenen Leib erfahren. Unsere Jäger haben von einer Bestie berichtet, die das Wild im Nebelwald dezimiert.  Wir haben Moru geschickt, um dem Tier eine Falle zu stellen.“ Seine zusammengepressten Lippen warnten Jiroh, weitere Fragen zu stellen und er senkte respektvoll den Blick.  Die Züge des Mannes wurden jedoch weicher als er sagte: „Wir sind dir dankbar, dass du Moru zurück gebracht hast. Sein Auftrag ist erfüllt.“

Aran war zu seiner Familie zurückgekehrt und ließ Jiroh alleine am Marktplatz vor dem Haus des Heilers zurück. Er saß auf dem Rand des steinernen Brunnens und blickte verloren auf die verschlossene Tür des Hauses. Gelegentlich kam eine Gruppe von Frauen vorbei und warf ihm einen neugierigen Blick zu. Kurz vor Einbruch der Dunkelheit öffnete sich die Tür und der bärtige Heiler verließ das Haus. Jiroh nutzte den Moment und lief auf den Mann zu.

„Wie geht es Moru? Wird er wieder gesund?“ Sein besorgter Blick überraschte den alten Mann und er lächelte ihn freundlich an.

„Er wird es schaffen, mein Junge. Moru ist ein junger Mann und ein kräftiger Kerl obendrein.“ Der Heiler tätschelte kurz Jirohs Kopf und wandte sich ab.

„Er hat mich gerettet.“ Jiroh spürte Tränen in seinen Augen, als er dem Mann einige Schritte folgte. Der Heiler hielt inne und dreht sich um, eine Augenbraue hochgezogen.

„Dann solltest du dich wohl bei ihm bedanken, Junge. Komm wieder wenn er wach ist. Für heute hattet ihr alle genug Aufregung.“ Der alte Mann setzte seinen Weg fort und ließ Jiroh auf dem abendlichen Marktplatz zurück.

Jiroh betrat kurz darauf das Haus seiner Eltern, das er nun mit seiner Schwester teilte. Er legte sich auf sein Bett ohne ein weiteres Wort über sein überstandenes Abenteuer zu verlieren. Shaira schien noch nichts davon gehört zu haben, denn sie begrüßte ihn wie jeden Abend mit einem freundlichen Lächeln, das einem besorgten Stirnrunzeln wich, als er sein Abendmahl nicht anrührte. Doch wie so oft ließ sie ihn gewähren ohne Fragen zu stellen. Das schätzte Jiroh sehr an ihr. Seit dem Tod seiner Eltern hatte Shaira die Aufgaben ihrer Mutter übernommen und versorgte den gemeinsamen Haushalt. Jiroh fehlten ihre Eltern sehr, doch er schätzte sich glücklich, Shaira um sich zu haben. Seine Schwester sprach nicht viel seit sie auf sich alleine gestellt waren, aber Jiroh verstand sich mit ihr meist auch ohne vieler Worte. Gerade an diesem Abend hatte er ohnehin wenig Lust auf ein Gespräch. Er schlief in dieser Nacht wenig und stand vor Einbruch der Dämmerung wieder am Marktplatz, um vor der Tür des Heilers zu warten. Die Sonne stand hoch am Himmel, als die Tür sich öffnete und der alte Mann gähnend ins Freie trat. Er sah Jiroh, seufzte und winkte ihn zu sich.

„Er ist wach, Junge. Aber fasse dich kurz.“

Jiroh betrat den großen Raum in dem mehrere leere Betten standen. Am hinteren Ende des Raumes war ein Bett belegt und Jiroh ging bedächtig darauf zu. Der Mann, der ihm gestern mit schier übermenschlicher Kraft das Leben gerettet hatte, lag zusammengesunken auf dem Bauch. Die Bettdecke reichte bis zu seiner Hüfte. Der gesamte Rücken war bandagiert und der Verband schien  eben erst gewechselt worden zu sein. Moru, Jiroh erinnerte sich an den Namen, den ihm der Dorfälteste gestern genannt hatte, lag mit geschlossenen Augen auf dem flachen Kissen. Ein Arm hing außerhalb des niedrigen Bettes auf den kalten Steinboden, als wolle er sich damit abstützen.

Jiroh kniete sich nieder und setzte sich neben das Bett. Der Mann öffnete langsam die Augen. Überrascht zwinkerte er. Jiroh wollte ihn fragen, wie es ihm ging, aber in Anbetracht der Situation schien ihm dies äußerst unpassend.

„Danke für gestern.“ sagte er schließlich. Moru lächelte und versuchte zu antworten, aber der Versuch schien ihm Schmerzen zu bereiten und er schloss die Augen. Jiroh ergriff schnell seine Hand und drückte sie.

„Es tut mir leid, dass ich so unvorsichtig war. Ich habe dich im Wald gesehen und wollte mit dir sprechen. Plötzlich stand diese Bestie vor mir. Ich hatte keine Ahnung…“ Moru drückte Jirohs Hand und öffnete seine blauen Augen. Das rabenschwarze Haar klebte an seiner Stirn.

„Ich möchte auch einmal Späher werden.“  Jiroh standen Tränen in den Augen. Moru lächelte. Er hob seine Hand und tätschelte seinen Kopf. Jiroh hasste es, wenn Erwachsene dies taten. Er war nun schließlich fast selbst ein Mann.   Moru zuckte mit vor Schmerz zusammengezogenen Brauen zurück.

„Soll ich dir etwas bringen? Hast du Durst?“ Jiroh beobachtet die Bewegung von Morus Lippen. Er formte ein lautloses „Nein“ und schloss seine Augen wieder. Jiroh nahm wieder seine Hand und wartete, bis Moru eingeschlafen war, ehe er das Haus des Heilers verließ.

Jiroh hatte bemerkt, dass Moru nur wenige Jahre älter als er selbst sein konnte. Er kannte die von der Sonne gegerbten Gesichter der Erwachsenen, die sich mit zunehmendem Alter in Falten legten. Morus Gesicht war braungebrannt, doch jugendlich. Jiroh schätzte ihn auf ungefähr 20 Jahreszyklen.  

Sobald es ihm besser ging, würde er Moru fragen, wie er selbst zu einem Späher werden könne. Fremde Dörfer und weit entfernte Landstriche zu sehen, schien ihm so viel interessanter zu sein, als sein ganzes Leben als Getreidebauer, Jäger oder Handwerker zu verbringen.

Jiroh legte sich an diesem Abend mit einem Lächeln auf den Lippen schlafen und träumte von seinen späteren Reisen. Doch immer wieder kehrten seine Träume zurück zu Moru und der starken Hand, die er zärtlich in seiner gehalten hatte.  

© Copyright 2014, Jiroh Windwalker 

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