Thursday, May 15, 2014

Relikt

Das Gebäude in Greenpoint war alt. Die Fassade bröckelte und brachte Ziegelsteine und Mörtel zum Vorschein. Baumaterialien, die seit Jahrhunderten nicht mehr verwendet wurden. Ilan lächelte über die Ironie, dass in diesem Gebäude nun ein Nostalgie-Museum untergebracht war.
Er stieg aus dem Fahrzeug, das er und sein Begleiter, der fünfzehnjährige Dorian, mit einer Gruppe Technikern teilten, die ebenfalls in diesem Stadtteil zu tun hatten.
Er öffnete den Regenschirm, um sich und den Jungen vor dem strömenden Regen zu schützen. Sie trugen Mützen auf ihren kahlen Köpfe, doch die Kälte war schneidend. Ilan, der selbst keine Kälte empfinden konnte, verstand das Konzept von Schmerz und beeilte sich, den Eingang des Hauses rasch zu erreichen.
Dorian blieb dicht auf Ilans Fersen. Seine Augen blickten nervös umher. Dieser Teil der Stadt erweckte in den meisten Menschen Ehrfurcht, die gelegentlich in Angst umschlagen konnte. Frequentiert von zwielichtigen Gestalten eilte dem Norden Brooklyns seit Jahrhunderten der Ruf eines Schmelztiegels von Arbeitern und Immigranten voraus, die nicht selten unlauteren Machenschaften in den dunklen Ecken der Stadt nachgingen.
Aber Dorian hatte darauf bestanden das alte Museum zu besichtigen, das, seit vielen Jahren halb in Vergessenheit geraten, hier langsam zu Staub zerfiel.
Der Eintrittspreis war lächerlich gering. Der Mann an der Kassa betrachtete Dorians Magnetkarte mit gerümpfter Nase. Ilan hatte vorausschauend einige Münzen in seine Tasche gepackt. Er überreichte sie dem Jungen, damit Dorian das Ticket bezahlen konnte.
Dorian schien fasziniert von der beeindruckenden Sammlung von Gegenständen aus früheren Zeiten. In der Nähe des Eingangsbereichs befanden sich Dinge aus dem Leben der Menschen vor über 400 Jahren: Kaffeemühlen, Waschmaschinen, Bügeleisen, Telefone mit langen Kabeln und Leuchtmittel aus Glas mit glühenden Drähten, die mehr Wärme als Licht abzugeben schienen. Die Räume änderten sich langsam und brachten neuere Geräte zum Vorschein: Bildschirme, mit denen die Menschen bewegte Bilder konsumierten, lange bevor implantierte Nervenschnittstellen aufkamen, um Unterhaltungsmedien im Kopf ohne weitere technische Hilfsmittel zu genießen.
Ilan rief alle Daten zu den gezeigten Exponaten aus dem Internet ab, auf das er in diesem abgelegenen Teil der Stadt nur sporadisch zugreifen konnte.
Er belächelte Dorian, der nach einem klobigen Mobiltelefon greifen wollte, und zurückschreckte, als er das "Nicht berühren"-Schild vor sich sah.
Ilans Interesse wurde im nächsten Raum geweckt, der Exponate aus der Periode des Großen Krieges zeigte, der die menschliche Gesellschaft vor 150 Jahren grundlegend umstrukturiert hatte und zur flächendeckenden Nutzung genetischer Modifikationen bei menschlichen Embryonen geführt hatte. Der Sieg der Befürworter der Gentechnik hatte den Durchbruch des modernen Menschen nach sich gezogen, der weitgehend frei von Krankheiten lebte und ein Alter von über 120 Jahren erreichen konnte. Die hohe Resistenz gegen Umwelteinflüsse hatte jedoch dazu geführt, dass die Augen der Menschen größer wurden, die Haut dünkler und Körperbehaarung fast vollständig verschwand. Mit diesen Entwicklungen hatten sich auch die Schönheitsideale der Menschen vollständig gewandelt. Menschen mit dem Aussehen, das ihnen Jahrtausende der Evolution gegeben hatte, verschwanden allmählich völlig und wurden durch Menschen ersetzt, die einander wie eineiige Zwillinge glichen.
Ilan lachte über die Karikatur eines Außerirdischen aus einem Magazin, das in einem der Glastresen lag. Das nackte Wesen mit dem eiförmigen Kopf und den insektenartigen Augen erinnerte ihn eher an die heutigen Menschen als an einen der extraterrestrischen Vielzeller, welche die ESA in den letzten Jahren in einem benachbarten Sonnensystem entdeckt hatte.
Ilan wandte sich Dorian zu. Der Junge hatte einen aufgeregten Laut der Überraschung von sich gegeben und stand gebannt vor einer gekrümmten Gestalt. Ilan musterte den menschenförmigen Roboter, der auf einem Sessel saß und leblos vor sich hinstarrte. Das mechanische Skelett, das sich unter einer gummiähnlichen Haut befand war an einigen Stellen beschädigt. Die letzte Bewegung der Gliedmaßen war in einem unnatürlichen Winkel eingefroren. Am Interessantesten daran war jedoch die Tatsache, dass der Android aussah wie ein Mensch der Vorkriegszeit, mit schwarzen Haaren, Augenbrauen, braunen Augen und einem dunklen Bartschatten auf seinem Gesicht, das an einigen Stellen beschädigt war und Blick auf die innen liegenden Motoren und Platinen bot.
"Wie heißt du?", fragte Dorian. Der Android reagierte nicht. Er war ebenso leblos wie alle Geräte um ihn herum.
"Er ist nicht aktiviert", stellte Ilan fest. Der Junge presste die Lippen aufeinander.
"Dann aktiviere ihn." Ilan kannte den sturen Blick des Jungen nur zu gut.
"Er ist beschädigt. Er würde nicht funktionieren."
"Versuche ihn zu reparieren. Ich befehle es dir."
Ilan verdrehte die Augen. Es war sinnlos mit Dorian zu diskutieren, wenn er sich etwas in den Kopf gesetzt hatte.
Ilan fand keine Überwachungskameras im Raum und vergewisserte sich, dass keine anderen Besucher oder Wächter in der Nähe waren, ehe er die Hand des Androiden ergriff und die Nanosonden, die seinen Unterarm bildeten, löste und ins Innere des beschädigten Roboters sandte.
Ilan registrierte die Daten der winzigen Sonden und wies die Bots an, alle schwerwiegenden Schäden zu beheben. Die Nanosonden begannen, fehlende Materialien zu replizieren und vervollständigten beschädigte Komponenten im Körper des Androiden. Dorians Augen weiteten sich, als die Risse im Gesicht des Androiden langsam verschwanden.
Ilans Nanosonden verblieben im Kopf des Androiden und begannen, die altmodischen Systeme mit Energie zu speisen. Das Hochfahren des Betriebssystems dauerte einige Minuten, doch dann begann der Android zu blinzeln und richtete sich auf.
Dorian trat einen Schritt zurück, während Ilan den Arm des Maschinenmenschen ergriff, um ihn am Umkippen zu hindern. Die Gleichgewichtssensoren arbeiteten definitiv noch nicht einwandfrei.
Der Android starrte vor sich hin und schien auf eine Eingabe zu warten.
"Warum siehst du so seltsam aus?" Dorians Stimme zog die Aufmerksamkeit des Androiden auf sich und er wandte sich dem Jungen zu. Ilans Griff blieb fest auf seinem Unterarm verankert.
Der Maschinenmensch starrte ihn ausdruckslos an. Ilan scannte die Prozesse in der Hauptplatine des Androiden, wurde jedoch aus den von den Nanosonden übermittelten Daten nicht schlau.
Der erwachte Android vollzog eine halbe Drehung seines Oberkörpers und zückte plötzlich ein langes Kampfmesser aus einer Scheide, die er im Inneren seiner Hose trug. Ilan ahnte, dass es sich bei dem Wesen vermutlich um einen Soldaten handelte.
Die Klinge durchtrennte Ilans Arm und befreite den Androiden aus seiner starren Umarmung. Dorians Augen weiteten sich, als die menschenähnliche Maschine auf ihn zu schritt und mit dem Messer ausholte.
Ilans Geist verband sich innerhalb weniger Mikrosekunden mit den Nanosonden in seinem abgetrennten Unterarm. Der Arm zerfiel auf dem Betonfußboden zu Staub und eine Wolke mikroskopischer Nanobots erhob sich hinter dem Androiden.
"Warum attackierst du uns?", rief Ilan, um die Aufmerksamkeit des Angreifers von seinem Schützling abzulenken.
Ohnen den Blick von Dorian zu wenden, antwortete der Android: "Genetisch modifizierte Organismen müssen neutralisiert werden."
Die Nanobotwolke legte sich über das Gesicht des Androiden und überzog seine Augen mit einer undurchdringlichen Schicht aus flüssigem Metall.
Ilan nutze die kurze Verzögerung und reorganisierte die Nanosonden seines Körpers, um sein Aussehen zu verändern. Dorian beobachtete seine Verwandlung mit entsetztem Gesichtsausdruck.
Ilans Körper verflüssigte sich für wenige Sekunden, ehe daraus ein Mensch entstand, mit kurzen braunen Haaren, blauen Augen, einer markanten Nase und heller Haut. Ilan war nun nackt und um einen Kopf kleiner als zuvor, aber er baute sich vor dem Androiden auf, der die Legierung von seinen Augen riss und das Messer erneut zum Angriff hob.
"Halt! Leg das Messer weg!"
Ilan erkannte in den Augen des Androiden, dass er ihn als Menschen seiner Zeit erkannte.
"Ich habe den Befehl genetisch modifizierte Wesen zu neutralisieren."
"Ich gebe dir nun einen neuen Befehl: Leg das Messer weg!" Ilan hielt seine Handflächen hoch. Ein Signal der Beschwichtigung.
"Ich bin nicht autorisiert, meine Befehlsprogrammierung zu ändern." Der Android ging auf Dorian zu. Ilan trat dazwischen und bohrte seine Finger in den Brustkorb des Androiden.
"Dann bin ich gezwungen dich zu deaktivieren."
Ilan nahm Kontakt mit den Nanosonden im Körper des Androiden auf und rief sie zurück. Innerhalb einer Sekunge erlosch das Licht in den Augen des Androiden und er fiel kraftlos in Ilans Arme.
Dorian trat näher und strich über das weiche Haar des Roboters.
"Ich möchte ihn studieren. Wir nehmen ihn mit."
Dorians Stimme ließ keine Diskussion zu. Ilans Körper formte sich zurück in seine ursprüngliche Form und er hob den kleineren Körper des Androiden in seine Arme.
"Aber beschwer' dich nicht, wenn ich dir später sage ich hätte dich ja gewarnt." Ilan überlegte, wie er dem Besitzer des Museums klar machen sollte, dass sie mit einem seiner Exponate verschwanden. Vermutlich würde Dorians Magnetkarte ausreichen, um den Mann zu überzeugen.
 "Wieso ist er so feindselig mir gegenüber?", frage Dorian.
"Er sieht in dir den Feind, den er programmiert wurde zu bekämpfen."
"Würdest du mich ebenfalls bekämpfen, wenn dich jemand dazu programmiert?"
Ilan rollte die Augen.
"Zwischen ihm und mir liegen 200 Jahre technologischer Entwicklung. Aber wenn du mich so fragst: vermutlich ja."
"Ich möchte wissen, was er uns über früher erzählen kann."
Am Eingang zückte Dorian seine Magnetkarte und deutete auf den Androiden in Ilans Armen. Der Museumsbesitzer betrachtete die Karte und schüttelte den Kopf.
"Ich bin kein Verkäufer. Aber ich bin ein Händler. Dieser Roboter ist ein Militärandroid der Evolutionsfraktion. Sie können ihn haben, wenn er dafür hier bleibt." Er deutete auf Ilan.
Ilan lachte kurz auf.
"Was wollen Sie mit einem Service-Bot wie mir? Meine Nanosonden gibt es an jeder Ecke zu kaufen. Ich wäre kaum interessant für Ihr Museum."
Die Augen des Mannes verengten sich zu schmalen Schlitzen.
"Die alltäglichen Dinge von heute sind die Exponate von morgen", antwortete er kryptisch.
Dorian und Ilans Augen trafen sich. Der Junge schien seine Entscheidung bereits gefällt zu haben.
Gemeinsam kehrten sie in den Ausstellungsraum zurück. Ilan setzte sich verärgert auf den einsamen Stuhl an der Wand des Museums. Dorian nickte ihm kurz zu und verließ den Raum.
Der Museumsbesitzer half Dorian, den Androiden in einen Transporter in Richtung Innenstadt zu hieven. Nachdem beide darin Platz genommen hatten, fuhr das Fahrzeug los und ließ Greenpoint hinter sich.
Dorian betrachtete das Profil des Militärandroiden und berührte erneut sein Haar. Seine Hand zuckte nicht zurück, als sich die Augen der Maschine plötzlich öffneten und sein Kopf sich ihm zuwandte.
"Dafür schuldest du mir was."
Dorian lächelte.
"Wir haben ein gutes Geschäft gemacht.", stellte der Junge fest und steckte seine unbenutzte Magnetkarte zurück in seine Jacke.
"Wenn du meinst. Ich fühle mich nicht wohl inmitten dieser verrosteten Platinen. Und meine Nanosonden werden nun in diesem alten Schuppen verrotten." Ilan fasste sich an den Kopf. Die Steuerung des fremden Körpers schien ihn zu fordern.
"Kannst du auf seinen Speicher zugreifen?"
Ilan schloss kurz die Augen.
"Sein Speicher ist kodiert. Ich werde versuchen auf ihn zu zugreifen, aber erst sollten wir nach Hause fahren."
Ilan atmete tief durch.
"Ich weiß gar nicht was die Menschen früher an diesen klobigen Geräten fanden."
In der Park Avenue verließen Dorian und Ilan das Fahrzeug. Ilan stolperte leicht und Dorian stütze ihn.
Wenige Minuten später öffnete sich die Tür zur Wohnung von Dorians Eltern. Ilan stütze sich an der Wand ab.
Der Junge schreckte hoch, als Ilan plötzlich nach seinem Arm griff und ihn herumwirbelte. Die Hand des Androiden schloss sich um seinen Hals.
Zu spät erkannte Dorian die Gefahr in die er sich begeben hatte. Er sah Sterne vor seinen Augen, als der Android seine Hand immer fester an Dorians Kehle drückte.
"Warum?", keuchte der Junge.
"Genetisch modifizierte Organismen müssen neutralisiert werden."
Dorians letzten Worte verhallten ungehört im Foyer des Apartments.
"Ilan..."

Contact Form

Name

Email *

Message *