Tuesday, October 28, 2014

Die andere Seite des Spiegels

Sarah balancierte das filigrane Cocktail-Glas zwischen ihren Fingern und
setzte es auf der Brüstung der ausladenden Terrasse ab. Der weiße Marmor
leuchtete in der Augustsonne. Sie rückte die Sonnenbrille auf ihrer Nase
zurecht und blickte über den weitläufigen Garten.

Ihre Augen fielen auf einen einsamen Schubkarren zwischen zwei Bäumen und
sie runzelte ihre Stirn, ehe das Läuten des Telefons
im Inneren des gläsernen Wintergartens ihre Aufmerksamkeit auf sich zog.
Sie entschloss sich, es zu ignorieren.

Das Cocktailglas brach das Licht in Regenbogenfarben auf den Steinfliesen,
die ebenso weiß und poliert waren wie die Brüstung. Sarah betrachtete das
Lichtspiel und ignorierte das Klingeln bis sie erkannte, dass der Anrufer
nicht aufgeben würde, ehe sie abhob. Die nächste Investition war eindeutig
ein Anrufbeantworter.

Sie ging mit wenigen Schritten zu dem geflochtenen Korbtisch neben der
Schiebetür und griff nach dem Telefon.

"Sarah? Du musst mir helfen..." Maggies Stimme klang aufgeregt und sie fiel
wieder in den hastigen Redefluss, den Sarah an ihrer besten Freundin am
wenigsten leiden konnte. Nach einer Minute des Zuhörens unterbrach sie
Maggies Ausführungen.

"Connor ist gegangen? Du meinst, er hat dich verlassen?"
Maggie stöhnte am anderen Ende der Leitung.

"Er hat mich nicht verlassen. Ich habe ihn rausgeworfen, weil er eine
Affäre mit dieser Kellnerin begonnen hat. Wie konnte er mich nur so
hintergehen?"

Sarah blickte wieder über die Terrasse und beobachtete den Gärtner, der
einen Korb mit Grasschnitt aus dem hinteren Teil des Anwesens geholt hatte
und den Schubkarren damit füllte. Die Schweißperlen auf seinem Oberkörper
glitzerten in der Sonne.

"Ich habe dir von Anfang an gesagt, dass Connor nur hinter deinem Geld her
ist, Maggie. Er ist wie alt? 25? Es wundert mich nicht, dass er nach
jüngeren Fischen Ausschau hält."
Sarah hörte die Entrüstung förmlich in der Leitung.

"Willst du damit sagen, dass ich zu alt für ihn bin? Wegen der paar Jahre
Altersunterschied?"

Sarah setzte ihre Sonnenbrille ab und rückte ihren ausladenden Sommerhut
zurecht.
"Von wievielen Jahren reden wir, Maggie? Ich hatte meinen 42. Geburtstag.
Den wievielten hattest du? Ach, ich vergaß, wir sind ja gleich alt."

Sarah lächelte über ihren Scherz. Es tat gut, Maggie zu quälen.

"Connor denkt ich sei 29", antwortete Maggie trocken.

"Bei allem Respekt, meine Liebe, aber soweit ist die Schönheitschirurgie
noch nicht."
Maggie ignorierte den Seitenhieb.

"Was hat eine Kellnerin das ich nicht habe?"

Sarah hatte den Faden der Konversation verloren und beobachtete den jungen
Gärtner, der den Schubkarren gebückt über den Rasen schob. Er bemerkte
Sarahs Blick auf sich ruhen und richtete sich auf, seine Augen direkt auf
Sarah gerichtet.

"Maggie, ich muss leider aufhören. Ich habe etwas auf dem Herd. Wir hören
uns später."

Sarah hörte den Kommentar ihrer Freundin nicht mehr, als sie den Hörer auf
den Tisch zurücklegte. Sie hatte in ihrer Küche seit Jahren nichts mehr
angerührt, außer natürlich ihrer Cocktails. Sollte Maggie denken was sie
wollte. Der Anblick des Gärtners verscheuchte jeden Gedanken an ihre
Freundin aus Sarahs Kopf.

"Ms Carlyle?" Joe hielt seine Mütze in seinen Händen, als wäre sie ein
Zylinder, den er respektvoll von seinem Kopf gezogen hatte. Sarah schwebte
die breite Treppe der Terrasse herab. Als ihre Füße den weichen Rasen
berührten, war sie froh, keine High-Heels zu tragen.

"Was gibt es Joe? Ich sehe du bist fleißig." Sie hielt ihre Sonnenbrille
zwischen Daumen und Zeigefinger und biss keck auf den Bügel.

"Ich wollte Sie etwas fragen. Darf ich nächsten Samstag einen Tag frei nehmen?"
Sarah war überrascht.

"Frei nehmen? Seit wann benötigt ein kräftiger junger Mann wie du einen Tag
Pause?" Sie musterte ihn interessiert.

"Ich habe... Pläne. Wäre es möglich? Ich verspreche, am darauf folgenden
Tag mein Versäumnis aufzuholen."

Er fletschte seine blendend weißen Zähne zu einem Lächeln, das sein Gesicht
in attraktive Falten legte.

"Ich bin einverstanden. Solange freie Tage nicht zur Gewohnheit werden."
Sarah lächelte ihn verführerisch an. Der junge Mann dankte ihr
überschwänglich und griff nach seinem Schubkarren. Ein Ast fiel herunter.
Sarah beobachtete Joes Körper, während er sich nach unten bückte und nach
dem Holz griff. Ein unterdrückter Aufschrei riss sie aus ihren Gedanken.
Sie musterte den Ast und bemerkte die langen Dornen, die wie Nadeln aus dem
Holz ragten. Joe hatte sich daran gestochen. Er fasste schnell nach dem
Hemd, das er in seinem Hosenbund befestigt hatte und wischte seine Hand
darin ab.

Sarahs Augen verengten sich, als sie die rote Spur sah, die auf dem Stoff
zurückblieb, ehe er wieder nach dem Karren griff und sich mit einem kurzen
Kopfnicken von seiner Arbeitgeberin verabschiedete.

Sarah blieb wie angewurzelt auf dem Rasen zurück. Erst als Joe außer
Sichtweite war, ging sie langsam zurück auf den Balkon und ergriff das
Telefon. Sie zögerte kurz, drückte dann aber einige Tasten.

"PCO, Sie sprechen mit Dana. Was kann ich für sie tun?", säuselte eine junge
weibliche Stimme.

"Meine ID ist Sarah Carlyle, 1422 Bodmin Avenue, Stafford. Ich möchte eine
Anfrage stellen."

"Ich bin gerne für Sie da. Womit darf ich Ihnen helfen?", fragte die Frau
interessiert.

"Kann ein Arbeiter vom Typ 5425 nach einer Hautverletzung rötliche
Flüssigkeit absondern?" Sarah blickte in den Garten. Joe war verschwunden.
Sie atmete tief durch.

"Sie meinen, ob ein Arbeiter bluten kann? Nur Bürger der Klassen A und B
können bluten. Arbeiter verfügen nicht über diese Funktion."

Sarah zögerte.

"Aber er blutet."

"Dann hat sich derjenige Ihnen gegenüber falsch klassifiziert. Oder er ist ein
Mensch." Die junge Stimme lachte.

"Ein Mensch? Ist das möglich?", Sarah blickte wieder nervös nach draußen.
Ihre Gesprächspartnerin schwieg für einen Moment. Sarah hörte eine rasche
Abfolge von Klicks.

"Es gibt in Stafford nur fünf registrierte Menschen. Keiner davon ist auf
freiem Fuß. Möchten Sie, dass ich einen Streifenwagen zu Ihnen sende?"
Sarah fasste an ihre Stirn und massierte sie nervös.

"Nein, vielen Dank. Ich bin sicher ich habe mich geirrt," Sie legte den
Hörer zurück, ohne sich zu verabschieden.

Vermutlich machte sie aus einer Mücke einen Elefanten. Joe hatte bestimmt
nur irgendwelche Beeren in der Hand, die rote Rückstände hinterließen. Er
war damals mit guten Referenzen gekommen. Es war gar nicht möglich, dass
ein Mensch durch das System rutschen konnte.

Sie schreckte aus ihren Gedanken hoch, als sie das Cocktail-Glas bemerkte,
das noch immer auf der Brüstung stand. Die klare Flüssigkeit blitzte hell auf, als sich die Sonne darin spiegelte. Sarah ging nach draußen und griff nach dem Glas.

Es dauerte einige Sekunden, ehe sie das Bersten der Splitter auf dem
Marmorboden wahrnahm. Sie wusste, dass das Glas bereits vor Sekunden kaputt gegangen war, aber erst jetzt verarbeitete ihr Gehirn die Geräusche. Oder die Tatsache, dass Joe plötzlich über ihr stand, während sie selbst auf dem Rücken in einer Pfütze aus Wodka lag.

"Es tut mir leid, Ms C. Ich wollte nicht, dass es so kommt."
Das Gerät in seiner Hand war unscheinbar, fast wie eine TV-Fernbedienung,
doch der magnetische Impuls, den es ausstieß, hatte Sarah vollständig
gelähmt.

Mit vor Entsetzen geweiteten Augen beobachtete sie, wie Joe in seinen
Werkzeuggürtel griff und ein Instrument hervorholte, das einer Injektionsnadel beängstigend ähnlich sah.

"Nur eine kleine Modifikation." Er setzte das Gerät an ihren Hals und
injizierte eine Sonde, die schmerzfrei unter Sarahs Haut verschwand.

Joe beugte sich über sie und lächelte. Seine schwarzen Haaren fielen ihm in
die Augen. Er deutete auf ein Armband an seinem Handgelenk.

"Sehen Sie das? Das ist ein elektromagnetischer Emitter, der eine konstante Frequenz aussendet."
Er tippte leicht an Sarahs Hals, wo zuvor die kleine Sonde implantiert
worden war.

"Und das hier ist ein Mikrochip, der Ihr Gehirn beeinflusst, sobald er
aktiviert wird. Ihr Kurzzeitgedächtnis wird gelöscht und Ihr Gehirn wird
die Frequenz meines Emitters permanent ignorieren. Das bedeutet, Sie werden
mich weder sehen noch hören können, solange das Gerät aktiv ist."
Sarah öffnete die Lippen um Worte zu formen, brachte aber keinen Ton hervor. Joe zwinkerte.

"Sie fragen warum? Das ist ganz einfach. Wir bewegen uns im Verborgenen und versuchen, den Weg zurück zu finden. Zurück zu einer Welt, in der wir frei leben können. In der wir nicht von den Maschinen unterdrückt werden, die unsere Vorväter zu ihrer Unterhaltung erschaffen haben."
Joe tätschelte Sarahs Wange. Sie starrte ihn ängstlich an.

"Das ist das letzte Mal, dass Sie mich sehen. Schade eigentlich. Wäre ich
einer von Ihnen, hätten Sie mich wahrscheinlich früher oder später ins Bett
gekriegt."

Joe verschwand aus Sarahs Blickfeld und tauchte nicht mehr auf. Sie zählte
die Minuten. Ein kurzer Migräneanfall verriet ihr, dass sie eindeutig
zuviel getrunken hatte. Sie fasste sich an den Kopf und stütze sich auf
ihren Ellbogen. Die Pfütze, in der sie lag, stank nach Wodka und die
Scherben glänzten auf der Terrasse während der Alkohol langsam verdunstete.
Verdammt. Sarah schwor sich, mit dem Trinken aufhören. Wieder einmal.
Torkelnd kam sie wieder auf die Beine und stolperte ins Haus zurück.
Modesta würde das Missgeschick auf der Terrasse später beseitigen. Sie
hielt an der Schiebetür kurz inne und holte tief Luft.  Das gefaltete Stück
Papier neben dem Telefon erregte Sarahs Aufmerksamkeit und sie hob es hoch.

"Sehr geehrte Mrs Carlyle,
ich bedaure Ihnen so kurzfristig mitteilen zu müssen, dass ich meine Stelle
als Gärtner aus familiären Gründen nicht mehr antreten kann. Ich hoffe Sie
finden rasch Ersatz und sind mir nicht böse.
Ich danke Ihnen für die gute Zusammenarbeit.
Joe Mitchell"

Heute war der Tag der Enttäuschungen. Vielleicht würde sie Maggie später
anrufen. Wahrscheinlich aber eher nicht.

Sarah schüttelte den Kopf um die unangenehmen Gedanken zu verscheuchen.
Junge Gärtner gab es wie Sand am Meer. Und morgen war ein neuer Tag.

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