Monday, October 27, 2014

Der Erbe des Professors

"Was wollten Sie nochmal wissen, junger Mann?"
Gregg legte den Kugelschreiber zur Seite und blickte auf den alten Mann. Professor Cromwell, seine Finger fest in die blendend weiße Bettdecke gekrallt, hatte wenig mit dem Astrophysik-Experten gemein, dessen wissenschaftliches Erbe angeblich so visionär war, dass sein Namen in manchen Kreisen in einem Atemzug mit Einstein oder Heisenberg genannt wurde.
Der Auftrag, den zurückgezogen lebenden Wissenschaftler auf eigenen Wunsch hin zu interviewen, klang zuerst nach einem Karrieredurchbruch für Gregg. Nach mehreren Misserfolgen mit Artikeln über "Innovationen" in der IT-Branche, die sich rasch als Flop herausgestellt hatten, kam das ungewöhnliche Interview in einem kalifornischen Luxus-Altenheim gerade zum richtigen Zeitpunkt.
Leider ließ der Geisteszustand des alten Mannes sehr zu wünschen übrig.
"Wie entdeckten Sie Ihre Liebe zu den Sternen, Professor Cromwell?", wiederholte er.
Die grauen Augen des Professors blickten ihn kurz an. Gregg glaubte, kurz einen scharfen Verstand darin zu sehen.
"Man muss die Sterne gar nicht lieben, um ihre Bedeutung zu erkennen. Die Astronomie und Astrophysik sind soviel mehr als nur ein Betrachten der Sterne um ihrer Schönheit willen."
Gregg überlegte kurz, das Zitat festzuhalten, entschied sich jedoch dagegen.
"Ihre theoretische Arbeiten im Bereich der Raumzeitkrümmung gelten als wegweisend bei den aktuellen Ansätzen der NASA zur Erforschung weit entfernter Bereiche des Weltraums. Welche Wissenschaftler haben Sie bei Ihrer Arbeit besonders inspiriert?"
Cromwell blickte verloren auf seine Decke.
"Fabio Alvarez."
Gregg blickte den Professor ratlos an. Wer zum Teufel war Fabio Alvarez?
Ein junger Pfleger in weißem Kittel betrat den Raum. Der alte Mann hob den Kopf und blickte den Neuankömmling lächelnd an.
"Martin. Der junge Mann fragt, welche Wissenschaftler mich besonders inspiriert haben." Er legte eine Hand auf den Arm des Pflegers. Gregg bemerkte den freundlichen Blick, den der junge Mann dem Professor zuwarf.
"Das ist einfach, Professor. David Hilbert und Bernhard Riemann. Denker, die abseits großer medialer Popularität ihr Leben in den Dienst der Wissenschaft gestellt haben."
Der erhobene Zeigefinger des Professors winkte zustimmend.
"Was täte ich nur ohne dich, Martin?"
An Gregg gewandt fügte er hinzu: "Schreiben Sie das auf, bevor ich es wieder vergesse."
Gregg machte eilig Notizen und beobachtete den Pfleger, der ein Teller und leere Trinkgläser vom Nachttisch des Professors einsammelte.
"Möchte ihr junger Kollege uns vielleicht Gesellschaft leisten, Professor Cromwell?"
Der Pfleger blickte Gregg überrascht an, doch der Professor schien den Vorschlag mit Begeisterung anzunehmen.
"Eine glänzende Idee! Martin, setz dich zu uns und erzähle dem jungen Mann was er wissen möchte. Du kennst mich mittlerweile besser als ich mich selbst, wie mir scheint."
Martin stellte das Tablett auf einen kleinen Tisch und zog einen zweiten Sessel an Professor Cromwells Bett.
Gregg musterte das Gesicht des jungen Mannes. Der glänzend schwarze Dreitage-Bart des Mannes wirkte attraktiv und passte zu seinem gebräunten Hautton. Die braunen Augen blickten Gregg schüchtern an.
"Was möchten Sie denn genau wissen?", sagte er.
Gregg lächelte ihn an und wandte sich seinem Notizblock zu.
"Fangen wir damit an, was den Professor in seiner Jugend dazu gebracht hat, sich für Astrophysik zu interessieren."
Martin überlegte kurz.
"Ich vermute, dass der Professor sich bereits als Kind für Sternenkunde interessiert hat. Aber seine erste große Leidenschaft galt dem Maschinenbau."
Greggs Stift kratzte eilig über das Papier. Diese Information war definitiv neu.
"Wie kam er vom Maschinenbau zur Astrophysik?"
Professor Cromwell fasste nach der Hand des Pflegers und drückte sie aufmunternd.
"Es wird Zeit, die Geschichte zu erzählen. Ich möchte nicht länger schweigen."
Martin nickte und seufzte. Gregg blätterte sicherheitshalber zu einer neuen Seite auf seinem Block und zückte den Stift.
"Vor 40 Jahren arbeitete der Professor für eine Tochterfirma des IBM-Konzerns, die sich auf den Vertrieb und die Wartung von Robotern und Androiden spezialisiert hatte.
"Während der Androiden-Aufstände von 2045?" Gregg blickte überrascht auf.
"Es war kurz vor den Aufständen. Die wenigsten Menschen wussten damals Bescheid, dass berühmte Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens keine Menschen, sondern menschenähnliche Roboter waren, die von Großkonzernen gelenkt wurden, um die Politik und Medienwelt gezielt kontrollieren zu können.
Professor Cromwell war Teil einer ganzen Armee von Robotik-Ingenieuren, die zu absoluter Verschwiegenheit verpflichtet waren und an den verdeckt lebenden Androiden  notwendige Wartungsarbeiten durchführten.
Eine der Personen, die zu Professor Cromwells "Kunden" zählte, war Fabio Alvarez."
Gregg blickte den Pfleger fragend an und er lachte verlegen.
"Es spricht für Sie, wenn Sie ihn nicht kennen. Er war damals ein berühmter Porno-Star in der internationalen Schwulen-Szene."
Greggs Stift durchstach fast das Papier auf dem er schrieb.
"Ein Android als Porno-Darsteller?"
Der Professor lachte verlegen auf und sagte: "Darsteller, Callboy, Live-Sex-Performer in diversen Clubs. Sein Leben war.... wild."
Martin fuhr fort: "Alvarez war ein gutaussehender Latino, der von nahezu jeder Person in Los Angeles begehrt wurde. Doch außer Professor Cromwell und dem Studio, das Alvarez besaß, wusste niemand, dass er - wenn die Lichter ausgingen - seine Hand auf eine Ladeplattform legte und den Rest der Nacht mit leerem Blick gegen eine Wand starrte, bis sein Ladevorgang abgeschlossen war."
Cromwell wälzte sich unruhig auf seinem Bett.
"Seine Existenz in diesem Milieu war einer so ausgereiften Technologie unwürdig."
Gregg blickte seine Gesprächspartner unsicher an.
"Was hat diese Geschichte mit Professor Cromwells wissenschaftlicher Karriere in der Astrophysik zu tun?"
Martin zeigte seine weißen Zähne in einem verlegenen Lächeln.
"Nach jedem Ladevorgang machte der Professor einen Neustart bei Alvarez. Dabei musste der Android eine Reihe psychologischer Tests absolvieren, um eine Interaktion mit Menschen so natürlich wie möglich absolvieren zu können. Bei einem einfachen Muster-Erkennungstest fiel Alvarez ein Buch über Astrophysik auf, das der Professor bei sich trug."
"Es ist ihm damals nicht nur aufgefallen, er hat sogar danach gegriffen und wollte darin blättern", warf der Professor aufgeregt ein.
"Ein Android zeigt ausschließlich vorprogrammierte Interessen. Da ich Alvarez eigenhändig programmiert hatte, wusste ich, dass Astrophysik in keinster Weise zu seinen Interessensgebieten zählte. Niemals hätte er mit einem Menschen ein Gespräch darüber geführt. Und dennoch wollte er das Buch sehen."
Die Aufmerksamkeit des Professors verlor sich erneut und Martin setzte seinen Bericht fort.
"Professor Cromwell gab Alvarez das Buch. Beim nächsten Routine-Check fiel dem Professor auf, dass Alvarez das Buch nicht nur sinnerfassend gelesen hatte. Er stellte sogar Fragen zur Gravitation als geometrische Eigenschaft der gekrümmten vierdimensionalen Raumzeit. Ein Konzept, das in diesem Buch gar nicht weiterführend erwähnt wurde."
"In den darauf folgenden Wochen entwickelten sich Alvarez' kognitive Fähigkeiten erstaunlich schnell. Er begann weitere Bücher zu lesen, die Cromwell ihm brachte, und stellte Fragen zu Themen, die selbst der Professor nicht beantworten konnte.
Eines Tages erwähnte Alvarez dann beiläufig, nicht mehr als Sexarbeiter tätig sein zu wollen und äußerte den Wunsch über sich selbst bestimmen zu können.
Das Studio wollte davon jedoch nichts wissen und zwang Cromwell dazu, den Androiden weiterhin für pornographische Dienstleistungen bereitzustellen. Er programmierte daraufhin einen Bug in die Bewegungsalgorithmen seines Schützlings. Bei einer der folgenden Live-Shows stolperte er und brach sich vor Hunderten von Zuschauern den Arm. Der Titanium-Knochen durchbrach die synthetische Haut und die Kabel und Platinen im Inneren des Androiden kamen zum Vorschein. Alvarez war damit enttarnt."
Gregg klopfte mit seinem Stift angespannt auf den Notizblock.
"Soll das heißen, dass Alvarez der Auslöser für die Androiden-Aufstände war?"
Martin schüttelte den Kopf.
"Das Studio versuchte den Vorfall zu vertuschen, aber es gab zur gleichen Zeit einen wesentlich weitreichenderen Vorfall, bei dem ein Senator als Android entlarvt wurde, wodurch eine Kettenreaktion ausgelöst wurde und sogar zahlreiche echte Menschen Anschlägen zum Opfer fielen, da ihre Angreifer sie für Maschinen hielten.
Alvarez geriet bei diesem Aufruhr rasch in Vergessenheit und verschwand spurlos von der Bildfläche. Ebenso wie der Professor."
Cromwell wälzte sich unruhig im Bett.
"Seine Hand konnte ich nie wieder ganz reparieren. Ich musste sie durch einen simplen Roboterarm ersetzen", seufzte er.
"Der Professor hat Alvarez versteckt und sein Interesse für Astronomie und Physik weiter gefördert. Es dauerte nur wenige Monate, ehe Alvarez alle von Menschen verfassten Arbeiten zu diesen Themen verschlugen hatte und begann, die Theorien der Wissenschaftler weiter zu entwickeln. Unter dem Pseudonym Professor Cromwells' veröffentlichte er eine ganze Reihe von Werken, die von der Wissenschaft mit großem Interesse verfolgt wurden und mittlerweile sogar für die Entwicklung neuer Antriebstechniken in der Raumfahrt maßgeblich waren."
Gregg wurde sich der Tragweite dieser Aussage erst langsam bewusst.
"Soll das heißen, dass nicht der Professor seine berühmten Werke geschrieben hat, sondern ein Ghostwriter in Form eines 40 Jahre alten Roboters?", fragte er verblüfft.
"Ich glaube, er wäre nicht erfreut, als 'Roboter' bezeichnet zu werden." Der Professor wirkte müde und zog seine Bettdecke höher.
"Wo ist Alvarez heute?", fragte Gregg.
Martin zuckte mit den Schultern und zwinkerte mit seinen braunen Augen. Er erhob sich und nahm das Tablett vom Tisch, um das Zimmer zu verlassen. Gregg versucht ihn aufzuhalten und fasste nach seinem Arm.
Erschrocken zog er ihn zurück, als er unter dem weißen Kittel nur zwei harte Metallstangen fühlte, wo Muskelgewebe sein sollte. Martin blickte ihn durchdringend an.
"Alvarez existiert nicht mehr."
Gregg nickte. Er klappte seinen Notizblock zu und erhob sich.
"Vielen Dank für Ihre Zeit Professor. Ich wünsche Ihnen alles Gute."
Der alte Mann griff nach seiner Hand.
"Sie haben meine Erlaubnis, alles so nieder zu schreiben, wie Martin es Ihnen erzählt hat. Ich möchte nicht länger die Lorbeeren für die Arbeit eines anderen ernten. Aber ebenso wenig möchte ich Alvarez einer Öffentlichkeit aussetzen, die in ihm nur eine Kuriosität sieht. Verstehen Sie was ich meine?"
Gregg blickte den jungen Pfleger an, der mit gesenktem Blick neben dem Bett stand.
"Ich verstehe Sie sehr gut Professor. Ich würde ebenso denken."
Er nickte Cromwell und seinem Pfleger zu und verließ den Raum mit der Story des Jahrzehnts in seiner Tasche.


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