Saturday, March 29, 2014

Erlösung



Die Wolken zogen rasch über den Himmel. Der Morgen brach nur langsam über St. Agnus herein. Das einsame Eiland war in der Sturmnacht Wind und Wetter erbarmungslos ausgesetzt gewesen und präsentierte sich im ersten Licht des neuen Tages als von Treibholz übersätes Schlachtfeld.

Steve hatte sich entgegen der Warnung seiner englischen Campingplatz-Nachbarn nicht von der Ein-Mann-Bootstour abbringen lassen. Immerhin hatte sich das Meer in den frühen Morgenstunden beruhigt und auch die knapp 900 Meter Entfernung zur südlichsten Insel der malerischen Scilly Isles schreckten ihn nicht ab. Die verträumte Insel St. Agnes, wo er auf einem Camping-Platz urlaubte, erschien Steve nach einer knappen Woche ohnehin etwas langweilig. Es wurde Zeit, zu neuen Ufern aufzubrechen, im wahrsten Sinne des Wortes.

Am Strand von St. Agnus, der winzigen, unbewohnten Nachbarinsel, fragte sich Steve jedoch, ob der Ausflug überhaupt die Mühe wert war. Von der Sonne gebleichte Steine, frisches Treibholz und natürlich die obligatorische Menge an angeschwemmtem Müll enttäuschten seine Abenteuerlust eher. Der Inselteil West Annet bot jedoch einen herrlichen Blick auf grenzenlosen Ozean, hinter dessen blauen Weiten die wirklichen Abenteuer warten mussten. Steve sah seinen Aufenthalt hier mittlerweile bloß als Erholung vom stressigen Arbeitsalltag. Dabei hätte er sich sehr auf etwas Abwechslung und Aufregung gefreut.

Die von glitschigen Algen bewachsenen Steine am Ufer beherbergten zahlreiche kleine Krabben, die Steves Näherkommen nur mit der raschen Suche nach einem Versteck würdigten. Neugierig drehte er einen der Steine um und eine ganze Schar der kleinen Tiere stob auseinander um unter den benachbarten Kieseln Unterschlupf zu finden. Steve lächelte und legte den Stein vorsichtig wieder zurück. Sein Blick glitt wieder über das Meer, das auf dieser Seite der Insel stärkere Wellen gegen den Strand rollen ließ und Steves Gesicht regelmäßig mit einem sanften Sprühnebel benetzte. Die schäumenden Wellen brachen sich einige Hundert Meter vor ihm an einer Felsengruppe. Steve zwinkerte kurz und sah noch einmal genau hin.

War das ein Bootssegel auf dem Felsen?
War ein Boot in der Sturmnacht vom Kurs abgekommen und gegen die Felsen geprallt? Vorsichtig bewegte er sich auf den Felsen zu. Ein leichtes Unbehagen machte sich in seinem Magen breit. Falls er tatsächlich ein Bootswrack finden sollte, würden die Passagiere vermutlich nicht mehr am Leben sein. Dennoch musste er in so einem Fall sofort die Küstenwache alarmieren.

Seine vorsichtigen Schritte wurden zu einem schnellen Lauf über den unebenen Strand. Die groben Kieselsteine gaben unter seinen Füßen nach und Steve fluchte, als er beinahe den Halt verlor. Mit einem Satz sprang er auf den Felsen und blickte auf der anderen Seite ins Wasser. Die schäumenden Wellen, die sich hier in einer kleinen Lagune fingen wiesen tatsächlich eine Menge Trümmer auf, die wie Reste eines Holzbootes aussahen. Steve kniff die Augen zusammen und suchte im hellen Licht der Morgensonne das Wasser ab. Da sah er es. In einem kurzen Moment zwischen zwei heranrollenden Wellen erblickte er den Rumpf eines kleinen Schiffes, nur wenige Zentimeter unter der Wasseroberfläche. Das Segel gehörte zweifellos zu diesem unglücklichen Wrack. Aber wo waren die Besitzer?

Mit etwas Glück hatte sich das Boot lediglich im Sturm losgerissen und hatte den Weg von St. Agnes bis hierher von selbst gefunden, ehe es an den Klippen zerschellte.

„Hey, Sie! Was machen Sie da?“ Steve rutschte vor Schreck fast von seinem Felsen, als er die autoritäre Stimme hinter sich hörte.
„Hier ist ein Boot gesunken. Ich sah das Segel hier hängen und wollte nachsehen.“ Er deutete auf das weiße Laken. Der Fremde zeigte sich wenig überrascht.
„Dann ist er also hier. Der Segler war gestern Nacht auf dem Weg zum Hafen und wurde vom Sturm überrascht. Wir haben zwar noch den Notruf empfangen, aber als wir rausfuhren, konnten wir das Schiff nicht mehr finden.“ Steve erkannte an der Jacke des Mannes, dass er zur Küstenwache von St. Agnes gehörte. Also war doch jemand an Bord. Und derjenige war jetzt mit Sicherheit tot.

 Steve blickte auf das aufgewühlte Wasser. „Warum hätten sie bei dem Unwetter in See stechen sollen?“
Der Mann winkte ihn zu sich. „Kommen Sie herunter. Ich werde meine Kollegen informieren, damit das Schiff geborgen werden kann. Zerbrechen Sie sich darüber nicht weiter den Kopf.“
Steve fragte sich, warum der Mann ganz alleine auf der unbewohnten Insel unterwegs war. Hatte er etwa auf eigene Faust nach dem Schiff gesucht, als seine Kollegen schon längst aufgegeben hatten? Ein kurzer Blick auf die unruhigen Augen und die durchnässte Kleidung des Mannes, ließen in Steve Zweifel aufkommen. Ehe er diese jedoch äußern konnte, erkannte er im Wasser etwas, das sein Blut gefrieren ließ.

Ein bleicher Körper löste sich vom Meeresgrund und hob sich langsam an die Oberfläche hob. Die weiße Haut leuchtete wie Elfenbein in der Morgensonne. Die noblen Gesichtszüge des jungen Ertrunkenen waren so entspannt und gleichförmig, dass Steve selbst im unmittelbaren Entsetzen nicht an eine Wasserleiche dachte. Nur ein roter Schnitt am Knopf verriet, dass es sich tatsächlich um einen Menschen handelte und nicht um eine angespülte Schaufensterpuppe.

„Hier liegt jemand im Wasser!“
Wie lange lag der Kerl schon unter Wasser? Was hatte Steve bei seinem Erste-Hilfe-Kurs damals gelernt? Er versuchte sich zu erinnern, das einzige, das ihm jedoch in den Sinn kam, war die Tatsache, dass sie damals nie über Ertrinkende gesprochen hatten.

Was wenn er zu spät kam und der junge Mann schon tot war?

Steve sprang vom Felsen ins seichte Wasser und starrte den Körper an. Es dauerte einige Sekunden, bis er realisierte, dass sich die Lippen des Mannes öffneten und schlossen, wie ein Fisch, der nach Luft schnappte. Wasser rann in seinen Mund und seine Nase. Steve biss die Zähne zusammen um eine Entscheidung zu treffen. Wenn er den Mann jetzt nicht aus dem Wasser zog, würde er mit Sicherheit ertrinken. Wo war der verdammte Küstenwächter?

„Rufen Sie endlich Verstärkung. Der Mann lebt noch!“
Er packte den nackten Jungen kurzerhand an der Schulter und zog ihn zu einem nahen Felsen, in der Hoffnung, dort irgendeine Art von Wiederbelebung hinzubekommen. Zu allem Überfluss hatte er sein Mobiltelefon im Camp gelassen!

Steve sog den Geruch nach Algen und Salz ein, der ihm von den schulterlangen schwarzen Haaren des Jungen in die Nase strömte. Die Platzwunde an seinem Kopf schien der Grund für die Bewusstlosigkeit zu sein, doch sein Körper spannte sich unter Steves starkem Griff spürbar an. Es dauerte mehrere Sekunden ehe er den Grund des unnatürlichen Gewichts bemerkte, das den Jungen im Wasser hielt. Unterhalb seines Nabels setzte sich sein Körper in einer seltsamen aalförmigen Struktur fort, die sich, nun da Steve bereits den größten Teil davon aus dem Wasser gezogen hatte, als riesige flossenähnliche Struktur entpuppte, die der Flosse eines Grauwals erstaunlich ähnlich sah. Er legte den Kopf des Jungen behutsam auf die runden schwarzen Kiesel, die sich zwischen den mächtigen Felsen sammelten und setzte sich stolpernd auf seinen Hintern, ungeachtet der Wellen, die immer noch heran schwappten und ihn dabei regelmäßig bis zum Bauch durchnässten. Der junge Mann lag friedlich da. Seine Augen flimmerten leicht und seine Wange zuckte unter den hellen Strahlen der Sonne, die sich ihren Weg durch die vorbeitreibenden Wolken suchte.

„Sie haben ihn also gefunden.“ Der seltsame Fremde war endlich hinter den Felsen aufgetaucht. Warum unternahm er nichts?

Steve streckte seine Hand aus und berührte die Brust des Jungen. Er fühlte sich kalt an. Unnatürlich kalt. Dennoch war er nicht tot. Ein schneller Herzschlag bewies dies eindeutig. Steves Hand wanderte über den muskulösen Bauch und berührte den glatten Übergang zwischen menschlicher Haut und grauen Schuppen, unter denen sich kräftige Muskeln befanden. Die Flosse des Wesens trieb sanft an der Wasseroberfläche und bewegte sich mit jeder Bewegung des Wassers.

„Entweder verliere ich jetzt völlig den Verstand oder das ist ein unglaublich gut gemachter Trick“, flüsterte er mehr zu sich selbst. „Sehen Sie dasselbe, was ich sehe?“ Steve wandte den Kopf zurück, um die Reaktion des Mannes auf seine verblüffende Entdeckung zu sehen. Der Fremde wirkte nicht besonders überrascht und sah den verletzten Mann mit versteinerter Miene an.

Der Mund des Jungen öffnete sich leicht und das Gesicht verzog sich zu einer Geste des Schmerzes. Die Kopfwunde! Zumindest diese musste echt sein.
„Haben Sie schon Hilfe gerufen? Haben Sie einen Notfallkoffer in ihrem Boot? Wir müssen die Blutung stillen.“ Steve trennte sein T-Shirt am Saum auseinander und riss einen Fetzen Stoff ab, um ihn an die blutende Wunde zu pressen.

„Mein Boot ist leider untergegangen“, erwiderte der Küstenwächter.

Steve sah den Stein nicht, den der Fremde anhob. Er sah jedoch, wie sich die Hand des verletzten Mannes bewegte und seine Augen sich öffneten. Steve war starr vor Schreck, als er in den kristallblauen Pupillen die Spiegelung des Mannes hinter sich sah, der mit erhobener Hand hinter ihn trat, um etwas auf ihn zu schleudern. Der Meeresmann reagierte jedoch schneller und warf einen Stein gezielt in das Gesicht des Angreifers, ehe er aufsprang, Steve am Handgelenk ergriff und ihn tiefer ins Wasser zog, wo die beiden sofort in den heranrollenden Wellen verschwanden. Steve verlor sofort die Orientierung. Eine Hand streifte an spitzen Steinen und dichten Algen, während die andere in Tausende Luftbläschen eintauchte, die beim Anrollen der Wellen im Wasser entstanden.

Endlich wurde das Meer etwas tiefer und Steve konnte mit geöffneten Augen den Grund von der Wasseroberfläche unterscheiden. Der Junge musste tatsächlich ein echter Meeresmann sein. Er hatte ihn immer noch fest im Griff und zog ihn mit sich, während er mit kräftigen Flossenschlägen durch das Wasser schnellte. Steve versuchte, seine Hand zu befreien, um kurz an der Oberfläche nach Luft zu schnappen. Der Meeresmann verstand ihn wortlos und zog ihn nach oben, wo ihre Köpfe an der Oberfläche auftauchten.
Steve hustete und sog dann die kalte Seeluft in seine Lungen.

„Wir müssen hier weg eher er uns sieht. Wo soll ich dich hinbringen?“, sagte der Meeresmann mit belegter Stimme. „Du kannst sprechen?“ Steve blickte ihn überrascht an. Der Junge ignorierte seine Frage und blickte sich besorgt um.
„Ich wohne auf einem Camping-Platz auf St. Agnes. Fast eine Meile in diese Richtung.“ Steve deutete eine Kurve um St. Agnus an, hinter der sein Camping-Platz liegen musste.  Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, tauchte der Meeresmann wieder unter und zog Steve mit wilden Flossenschlägen mit sich. Steve schloss die Augen und versuchte, dem Wasser so wenig Widerstand wie möglich zu bieten und hielt seinen freien Arm eng an seinem Körper. Mit kurzen Pausen an der Oberfläche dauerte es nur wenige Minuten, bis der größte Teil der Strecke zurückgelegt war. Doch bevor die beiden das rettende Ufer erreichten, fasste sich der Meeresmann mit schmerzverzerrtem Gesicht an den Kopf und sein muskulöser Fischschwanz erschlaffte.  Er hatte offenbar das Bewusstsein verloren und trieb haltlos im freien Wasser. Steve erfasste Panik. Er befreite sich aus dem Griff des Jungen und tauchte an die Oberfläche, wo er so viel Luft, wie in seine Lungen passte, einsog und die Entfernung zum Ufer abschätzte. Danach tauchte er unter und folgte dem weißen Schatten des Jungen, der langsam immer tiefer nach unten trieb. Der Druck in seinen Ohren wurde fast unerträglich, als Steve endlich den Arm des Mannes zu Fassen bekam und ihn nach oben zog.  An der Oberfläche angelangt, umarmte er den Hals des Jungen und zog ihn mit sich, während er rückwärts schwimmend in Richtung Ufer steuerte. Es dauerte nun wesentlich länger voranzukommen und kostete Steves ganze Kraft, doch schließlich spürte er tatsächlich Grund unter seinen Füßen und ließ sich auf die Knie sinken. Er konnte es kaum glauben, aber sein Kraftakt hatte ihn tatsächlich bis zum Strand des Camping-Platzes gebracht, wo sein blaues Zelt bereits auf ihn wartete – und der Notfallkoffer.

„Warte hier. Ich bin gleich wieder da.“ Steve war nicht sicher, ob der Junge ihn überhaupt hören konnte. Sein Gesicht war wieder von Schmerzen verzerrt und er stöhnte leise. Steve ließ ihn im Wasser liegen und rannte hinüber zu seinem Zelt, wo er eine große Decke holte und den Meeresmann darin einwickelte, bevor er ihn zu seinem Zelt trug und die Stofftür schloss, in der Hoffnung, dass niemand das seltsame Schauspiel mit angesehen hatte.

Hastig kramte er den Notfallkoffer hervor. Im Inneren befanden sich wie erwartet jede Menge Mullbinden und Pflaster. Er riss hastig die Verpackung auf und rollte mehrere Lagen des Stoffes ab. Der Junge begann sich unruhig zu bewegen, während Steve eine Wundkompresse an seine Stirn drückte. Die Hand des Verletzten erhob sich langsam und fasste suchend an seinen Kopf, wo seine kalten Finger Steves Hand berührten und unsicher zurückschreckten. Steve beeilte sich, die Mullbinden um den Kopf des Wesens zu legen, das er sich nur als reale Version einer männlichen Meerjungfrau erklären konnte. Etwas Klebefilm hielt den Verband schließlich an seinem Platz.

Steve packte den Rest des Verbands schließlich zurück und erzitterte, als er bemerkte, dass der Mann seine Augen geöffnet und direkt auf ihn gerichtet hatte. Die eisblauen Augen leuchteten im Licht der Sonne wie die Iris einer Katze im Lichtkegel eines Autoscheinwerfers. Steve erkannte in seinem Blick Angst, aber auch eine große Neugier. Die kantigen Gesichtszüge und die makellose Haut erinnerten Steve an junge Adelige, die wohlbehütet im Kreise der Reichen und Schönen fernab von allen existentiellen Sorgen lebten. Dennoch war die Schönheit des Jungen nicht mit einem gutaussehenden Menschen zu vergleichen, sondern eher mit der Anmut eines Tigers, der sein Überleben in einer unwirtlichen Umgebung stolz und selbstsicher meistert. Steve konnte die kräftigen Muskeln unter der Haut sehen, als er versuchte, sich vorsichtig zu bewegen. Sein Mund, eben noch mit dem Anflug eines Lächelns gebogen, verzerrte sich durch den Schmerz einer falschen Bewegung und er ließ sich wieder kraftlos auf den Schlafsack sinken.

„Ganz langsam. Was ist denn passiert?“, Steve legte seine Hand beruhigend auf die Brust des Jungen und spürte sein Herz nervös schlagen. Er erwiderte seinen Blick, sah sich im Zelt um und räusperte sich.
„Der alte Mann wollte dich verletzen. Wo sind wir hier?“
„Das ist mein Zelt. Wir sind am Camping-Platz von St. Agnes. Danke dass du mich vorhin gerettet hast. Ich hab den Angriff nicht vorhergesehen.“ Steve wusste nicht wo er beginnen sollte.
„Darf ich dich etwas Persönliches fragen?“ Der Junge war überrascht über die Frage und nickte langsam.
„Wer bist du? Bist du so etwas wie eine Meerjungfrau?“ Steve errötete leicht, als er die Frage gestellt hatte. Es war vermutlich die dümmste Frage, die er in dieser Situation stellen konnte.  Zu seiner Verwunderung, lachte der Junge kurz auf.
„Ich und eine Meerjungfrau? Wie kommst du darauf? Ich bin ein Fischer aus Hugh Town. Mein Name ist James Davy.“ Der Junge versucht sich aufzusetzen und hielt sich an Steves Schulter fest.
„Ich bin Steve. Und was hat es mit deinem Fischschwanz auf sich?“ Er zog die Decke kurz weg und deutete auf den grauen Fischleib unterhalb James‘ Bauchnabel. Die Augen des Jungen weiteten sich und er umklammerte Steves Oberkörper. Steve zog ihn zu sich und ließ den Kopf des Jungen an seiner Schulter ruhen.
„Woran kannst du dich denn erinnern? Was ist heute Nacht geschehen?“ Steve versuchte ruhig zu sprechen, konnte aber ein Zittern in seiner Stimme nicht unterdrucken.

Der Junge starrte ausdruckslos ins Leere und formte Worte mit seinen Lippen, die Steve nicht ausmachen konnte. Schließlich blickte er in seine Augen und schien sich zu beruhigen.
„Ich bin aufgewacht… Etwas Schweres lag auf mir. Ich dachte ich sei tot und wäre in der Hölle, aber es waren nur Steine und Sand.“ Die Augen des Jungen zitterten, als versuchte er zu weinen, aber es kamen keine Tränen. „Es gelang mir, mich aus meinem kalten Grab zu befreien und ich fand mich am Meeresgrund wieder. Ich hatte erst gar nicht bemerkt, dass etwas an mir verändert war. Ich schwamm zur Oberfläche und habe mich dort auf einen Felsen gesetzt, wo das Wasser mich überspülen konnte. Ich saß dort viele Tage. Ich hatte keinen Hunger oder Durst und die Zeit war unwichtig.“ James schloss die Augen. Eine unangenehme Erinnerung verdunkelte sein Gesicht.

„Da war ein Boot. Es hatte mich entdeckt und kam immer näher. Ich sah darauf den Mann, der dich heute verletzen wollte. Ich tauchte jedes Mal unter und kehrte erst zurück als das Boot weg war. Doch letzte Nacht… der Sturm war so laut und das Meer unruhig. Ich erinnere mich nur an einen dumpfen Schlag und erwachte dann, als du über mir gebeugt warst.“ Es kostete James seine gesamte Kraft, sich zu erinnern und er hatte die Hand, mit der er in Steves Shirt nach Halt suchte mittlerweile zur Faust geballt. Steve verstand nun was passiert war.

„Der Fremde wollte dich fangen und ist im Sturm zu nahe an die Klippen gefahren“, erklärte er flüsternd. James‘ Geschichte hatte jedoch nur noch mehr Fragen aufgeworfen.
„Kannst du dich an etwas aus deinem früheren Leben erinnern? Du bist jetzt ein Meeresmann mit einem sehr englischen Namen. Was hat es damit auf sich?“
James schloss angestrengt die Augen. „Ich war Fischer. Ich erinnere mich daran genau. Ich bin bei meinem Vater in Hugh Town aufgewachsen und habe bei ihm das Fischereihandwerk gelernt.“
„Wann wurdest du geboren?“, warf Steve kurz ein.
„1825. Wieso?“ James‘ Gesichtsausdruck nach zu urteilen, hatte er keine Ahnung, dass mittlerweile 170 Jahre vergangen waren. Steve versuchte sich seine Überraschung nicht anmerken zu lassen.
„Du hast eine lange Zeit geschlafen. Kannst du dich an Details aus deinem Leben erinnern?“
James Blick verdunkelte sich erneut. „Ich kann mich erinnern. Ich wurde bestraft.“

Ein düsteres Donnergrollen ließ die Erde erbeben. Das Unwetter war zurückgekehrt und unterstrich James‘ Worte unheilvoll.

„Bestraft wofür?“ Steve nahm die geballte Hand des Jungen und löste den eisernen Griff langsam.
„Da war ein Mädchen… Sie war die Tochter eines reichen Händlers und sie… begehrte mich. Ich hätte froh sein müssen, von ihr überhaupt eines Blickes gewürdigt zu werden. Aber ich war nicht verliebt in sie. Statt ihr den Hof zu machen beging ich eine unverzeihliche Sünde. Ich erinnere mich an den Blick ihrer Augen, als sie uns entdeckte und den Fluch aussprach.“ Steve nahm James‘ Gesicht in seine Hände, sodass sich beider Männer Blicke trafen.

„Was für eine Sünde?“, fragte er ernst. James zögerte, sichtlich beschämt darüber zu sprechen.
„Ich habe einen Mann begehrt… nachdem mir klar wurde, dass auch er für mich so empfand, haben wir uns der Sünde hingegeben und wurden dabei überrascht“, erklärte er mit geschlossenen Augen.
Steves Gedanken kreisten um Verbrechen wie Mord, Vergewaltigung oder Betrug. Was er hier jedoch hörte, schien ihm in keinster Weise sündhaft zu sein, zumal er diese Gefühle selbst sein ganzes Leben gehabt hatte und diese auch offen lebte.
„Einen Mann zu lieben ist keine Sünde, James“, Steve sah den unsicheren Blick in seinem Gegenüber. „Zumindest nicht in meiner Welt.“
„Dann ist deine Welt eine bessere als meine es war“, antwortete James traurig.
„Du bist jetzt ein Teil davon“, lächelte Steve und wiegte James aufmunternd in seinen Armen.

Der langsam aufkommende Regen wurde stärker und prasselte gegen das Zeltdach. Das Quietschen wütender Reifen drang durch den Lärm und schreckte Steve auf.
Er öffnete das Zelt und blickte nach draußen auf den Parkplatz, wo das Licht zweier Autoscheinwerfer seine Augen blendete. Ein Mann trat ins Licht. Er trug einen länglichen Stock in der Hand, den Steve erst bei näherem Hinsehen als Gewehr erkannte.

Was wollen Sie?“, rief er in Richtung des Fremden.
„Die Kreatur“, erwiderte der Bewaffnete. „Ich weiß, dass sie bei dir ist und ich werde nicht ohne sie gehen.“ Er entsicherte seine Waffe.
„Warten Sie!“ Steve erkannte James‘ Stimme hinter sich. Der Meermann hatte sich auf seinen Händen ins Freie geschleppt und lag keuchend auf dem schlammigen Boden. „Ich komme freiwillig mit, aber lassen Sie ihn in Frieden.“ Er fand Steves besorgten Blick.

Der Fremde schritt zielstrebig auf James zu, die Waffe weiterhin auf Steve gerichtet. Hastig beugte er sich runter und packte den Meermann am Oberarm, um ihn einhändig zurück zu seinem Wagen zu schleifen. Doch ehe Steve reagieren konnte, krümmte sich James‘ Körper und der Fischschwanz des Jungen traf seinen Entführer mit voller Wucht am Kopf, sodass dieser die Waffe fallen ließ und zu Boden taumelte.
Steve entriss James aus dem eisernen Griff des Irren und trug ihn zum Strand, wo die Wellen bereits wütend über den Sand rollten.
Ein hallender Schuss durchbrach das Getöse des Unwetters und brachte es für den Bruchteil einer Sekunde zum Verstummen. Eine Sekunde, die Steves Füße ermatten ließ. Eine Sekunde, die James Augen weitete, als er das Blut auf Steves Brust sah. Eine Sekunde, in der das Meer sich zornig aufbäumte und die beiden Männer in sich verschluckte. Steves Welt verschwand vor seinen Augen. Er hörte noch den verzweifelten Schrei seines Freundes und spürte die Kälte des Wassers auf seiner Haut. Jemand zog ihn tiefer ins Meer und er fühlte weiche Lippen, die sich auf seine pressten. Er hatte nie viel von den komplizierten Vorgängen verstanden, die angeblich zwischen der Welt der Wissenschaft und der Welt des Übernatürlichen stattfanden. Doch sein letzter Gedanke formte sich aus einem Gefühl der Zufriedenheit und aus dem Wissen, einen alten, ungerechten Fluch gebrochen zu haben. Mit einem Lächeln sank er tiefer hinab und fühlte keine Angst mehr.

***

Der Kastenwagen hielt so dicht am Ufer wie möglich. Es war dem Campingplatz zu verdanken, dass hier überhaupt die Möglichkeit bestand, so nahe an die Fundstelle heranzukommen. Die junge Frau, die aus dem Wagen sprang, drängte sich durch die Menge der Polizisten und Sanitäter. Sie ignorierte die abweisenden Kommentare der Männer und machte sich selbst ein Bild von dem Geschehen. Ihr Begleiter brauchte etwas länger, um zu ihr aufzuschließen, denn er trug schweres, technisches Equipment bei sich. „Bist du soweit Stan?“, fragte sie sachlich und strich sich ihre blonde Mähne aus dem Gesicht, die der Wind immer wieder zurückblies. Stan nickte und hob die Kamera an seine Schulter.  Die junge Frau nahm ein Mikrofon entgegen und begann, mit der Routine jahrelanger Übung, zu sprechen.

„Hier ist Cathy Mitchell von KWL. Ich berichte live von der britischen Insel St. Agnes, wo der Fund zweier Wasserleichen mehr Fragen aufwirft als er beantwortet. Es handelt sich um zwei Männer Mitte 20, die nackt an das Ufer gespült wurden. Was hier genau vorgefallen ist können die Ermittler derzeit noch nicht sagen. Fest steht jedoch, dass einer der beiden durch eine Schusswunde starb, während der andere offensichtlich ertrunken sein dürfte. In den frühen Morgenstunden war jedoch ein verwirrter Mann aufgetaucht, der behauptet hatte, bei einem der beiden Männer handle es sich nicht um einen Menschen, sondern um eine – und jetzt zitiere ich wörtlich – „männliche Meerjungfrau“. Die zuständigen Sanitäter können jedoch nur bestätigen, dass beide Männer Menschen seien“ Cathy kicherte, zwang sich jedoch sofort wieder zu einem professionellen Ton. „Die alarmierten Sicherheitskräfte haben jedoch im Auto des Mannes jene Schusswaffe sichergestellt, mit der einer der beiden Männer mit hoher Wahrscheinlichkeit erschossen wurde. Experten prüfen dies gerade.

Dennoch wirft der seltsame Mord viele Fragen auf. Die Identität eines der beiden Toten konnte bereits festgestellt werden. Wer oder ‚was‘ der zweite Mann war kann erst nach genauerer Analyse durch Experten der Mordkommission festgestellt werden. Ich bin Cathy Mitchell von KWL und ich halte Sie auf dem Laufenden.“


 © Copyright 2014, Jiroh Windwalker
Alle Rechte vorbehalten.



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